Rollstuhlfahrer Michel Hinrichsen, 19, aus Norderstedt bekam nirgendwo ein Berufspraktikum – bis sich die Abendblatt-Redaktion traute

Die Inklusion. Alle sind dafür. Im Prinzip. Nur weil jemand im Rollstuhl sitzt, weil er nicht hören oder sprechen kann, weil er Autist ist oder unter dem Down-Syndrom leidet, darf er nicht ausgeschlossen werden aus der Gesellschaft. Inklusion, inkludieren, mitten rein in die Gesellschaft müssen die Menschen mit Behinderungen. Das ist der immer wieder beschworene Konsens der politisch korrekten Gesellschaft.

Und dann klingelt das Telefon in der Redaktion, Lehrer Andreas Baader von den Berufsbildenden Schulen Norderstedt ist am Apparat und bittet mit dem Unterton der Resignation um einen Schul-Praktikums-Platz für einen seiner Schüler. „Michel bekommt nur Absagen. Oder die Firmen reagieren gar nicht erst auf seine Anfragen. Können Sie ihm vielleicht irgendetwas anbieten?“

Michel Hinrichsen, 19. Ein Norderstedter Junge, einer wie viele andere. Er ist aktiver Basketballer beim HSV. Ein begeisterter Gamer, der auf Spiele wie Call of Duty oder Fifa 14 steht. Der sich nach seinem Realschulabschluss ein Auslandsjahr in den USA bei einer Gastfamilie in Ottawa/Illinois über ein Basketball-Netzwerk selbst organisiert hat. Der jetzt die 11. Klasse des Beruflichen Gymnasiums in Norderstedt besucht und sich wie alle Altersgenossen Gedanken darüber macht, wo er einmal in der Arbeitswelt seinen Platz finden könnte.

Nur mit dem Unterschied, dass er auf diesen Arbeitsplatz rollen können muss, während die anderen da ganz einfach hingehen können. Denn Michel sitzt im Rollstuhl. Seit der Geburt. Michel kennt es also nicht anders.

Sein Schicksal nimmt er lakonisch. „Sauerstoffmangel bei der Geburt. Schlug sich auf den Gehapparat durch, eine Spastik in den Beinen. Ich kann noch von Glück sagen, ich bin in der Birne klar – nicht so wie andere mit dem gleichen Problem.“

All diese Hintergründe kennen wir beim Abendblatt noch nicht, als der Lehrer am Telefon ist. Wir hören nur Rollstuhl und vertrösten den Mann, sagen ihm, wir werden das in der Redaktionskonferenz besprechen.

Ein Rollstuhlfahrer als Praktikant bei der Zeitung? Sind unsere Räume überhaupt barrierefrei? Haben wir jetzt in der Sommerurlaubszeit genügend Leute – weil sich doch bestimmt ein Redakteur ständig um den Rollstuhlfahrer kümmern muss? Hat er besondere Bedürfnisse? Kann er alleine aufs Klo? Hat er einen Betreuer – oder müssen am Ende wir das leisten? Wie soll er zu den Presse-Terminen in der Stadt kommen? Passt der Rollstuhl in den Abendblatt-Smart? Und müssen wir da versicherungstechnisch irgendetwas beachten?

Nachdem wir uns in der Redaktionskonferenz durch den Dschungel unserer Bedenken und Vorurteile geschlagen haben, gelangen wir doch noch auf die Lichtung der Erkenntnis. Was, zum Teufel, ist an diesem Praktikanten eigentlich so verschieden als bei anderen Praktikanten? Er kann nur nicht laufen. Das ist zunächst alles.

Warum also nicht die ganz normalen Kriterien ansetzen, wie bei jedem anderen Jugendlichen auch, der sich bei der Zeitung mal ausprobieren möchte? Kann er sich selbst organisieren? Bekommt er die Zähne auseinander und kann er kommunizieren? Ist er neugierig? Hat er Bock auf das Praktikum oder nur gerade nichts Besseres vor? Ist Grundtalent vorhanden oder tut er sich schon beim Schreiben seines Namens schwer?

Wir sagen uns: Das mit dem Rollstuhl – das wird dann schon irgendwie klappen. Nein. Es muss klappen. Denn wie sollen wir als Tageszeitung glaubhaft in vielen Artikeln für die Inklusion werben, wenn wir es noch nicht einmal zehn Tage hinbekommen, einen Rolli-Fahrer in unsere Redaktion zu inkludieren?

Der Lehrer bekommt fast Schnappatmung, als wir zusagen. „Danke!“, sagt er und dabei weicht seine Resignation der tief empfundenen Erleichterung. Was die organisatorischen Fragen angeht, so gibt der Pädagoge Entwarnung. „Michel kriegt das alles hin und kommt allein zurecht. Er wird sich über die Zusage riesig freuen.“

Als Michel am ersten Tag seines zehntägigen Praktikums in der Redaktion anrollt, die erste Überraschung. „Ich kann gehen“, sagt er. Das ist jetzt kein Wunder. Die Spastik lässt ihm gerade so viel Beweglichkeit, dass er kurze Wege, also zur Toilette oder in den Wagen, abgestützt alleine bewältigen kann. Kleine Treppen sind auch kein Problem. Am Praktikantentisch in der Redaktion gibt’s keine Kompatibilitätsprobleme. Der obligatorische Drehstuhl kommt in die Ecke, der Rollstuhl hat die richtige Höhe zur Tischkante. Als Gamer ist Michel vertraut mit Computern. Das Redaktionssystem hat er schnell begriffen.

Praktikanten brauchen Fingerübungen. Bei der Zeitung bedeutet das: Meldungen, Meldungen, Meldungen. Die kleinen Ankündigungen und Informationen schreibt Michel nach einigen Erklärungen druckreif. Je länger er da an seinem Platz sitzt, je weniger fällt der Rollstuhl überhaupt noch auf. Schließlich sitzen hier alle ziemlich lange still am Tisch und hacken in die Tastaturen. Unsere anfänglichen Bedenken gegen den Rollstuhleinsatz in der Redaktion erscheinen uns zunehmend peinlich.

Der erste Außeneinsatz steht an. Die Fraktion Die Linke bittet zum Presse-Termin in der Heidbergstraße. Ist in Laufweite. Auch in Rollstuhlweite? Es fängt an zu regnen. „Ich bin nicht aus Zucker. Da roll ich einfach durch“, sagt Michel und es geht los. Pitschnass aber pünktlich beim Termin, blicken die Lokalpolitiker überrascht auf den rollenden Praktikanten des Abendblatts. Man ist bemüht, hilfsbereit und aufmerksam. Ebenso reagieren die Teilnehmer bei anderen Presse-Terminen, etwa bei der wöchentlichen Pressekonferenz im Rathaus.

Michel Hinrichsen kennt es nicht anders in seinem Alltag: „Ich merke es oft, wie die Leute im Umgang mit mir unsicher und vorsichtiger werden. Sie sind sich nie sicher, was man mit mir machen kann und was nicht oder wozu ich fähig bin und wozu nicht. Und dann haut es sie fast um, wenn ich plötzlich aus dem Rollstuhl aussteige und gehe. Ich sage dann immer, ich bin mehr so eine Art Freizeitbehinderter.“

Humor ist Michels Weg, mit seiner Situation und den Reaktionen auf ihn in der Gesellschaft umzugehen. Im Auto nach Feierabend soll Michel den Weg zu seinem Elternhaus weisen. Er zeigt nach rechts und sagt: „Nach links jetzt!“ Auf den Lapsus angesprochen, sagt er achselzuckend: „Du weißt ja, ich bin behindert!“ Wenn er mit Freunden den Abend plant, sagt er: „Lass uns mal dahin rollen.“ Wenn Jugendliche sich – wie leider üblich – mit „Bist du behindert, oder was?“ aufziehen, wenn einer was nicht kapiert, ist es Michel, der aus dem Off sagt: „Also – ich schon!“ Und wenn es gemütlich wird: „Ich sitz’ schon!“

Mit seiner Lockerheit löst Michel die Verunsicherung. „Manche Leute stellen Fragen, sind interessiert an meiner Situation. Andere wirken sehr besorgt um mich, wollen alles versuchen, es mir so leicht wie möglich zu machen. Früher hat mich das immer genervt. Heute beantworte ich die Fragen einfach.“ Besonders die Mädchen seien oft sehr bemüht um ihn. „Ich habe mal eine Freundin aus der Schule gefragt, warum sie öfters bei mir rumsteht. Als Antwort bekam ich: Du bist der einzig Normale hier.“

Doch in Lebenssituationen wie der Suche nach einem Praktikum wird es Michel immer wieder schmerzlich klar, dass die Gesellschaft das in der Mehrheit anders sieht. „Man ist ja schon als nicht-behinderter Mensch enttäuscht, wenn man eine Absage bekommt. Aber wenn noch nicht mal das passiert und es überhaupt keine Reaktion auf deine Bewerbung gibt – das ist schon sehr hart.“ Für ihn hing viel an diesem Praktikum, denn es ist die Voraussetzung, um überhaupt in die 12. Klasse zu kommen. Da Michel im Ernährungszweig des Beruflichen Gymnasiums ist und in Richtung Koch gehen wollte, versuchte er es in der Gastronomie und bei Lebensmittel-Produzenten im Kreis – ergebnislos.

Michel: „Ich war sehr frustriert und hab mich schon innerlich darauf vorbereitet, nicht in die nächste Klasse zu kommen. Ich hätte mir dann eine Ausbildung suchen müssen, aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, in welche Richtung ich gehen möchte. Ich wurde regelrecht depressiv und alles war nur noch scheiße.“ Das mit dem Koch-Dasein hat Michel Hinrichsen verworfen. Auch seine Lehrer raten ihm dringend davon ab. „Ich möchte mich umorientieren – etwas finden, was mir eine grobe Richtung für mein Leben nach der Schule gibt. Ich denke, das ist beim Hamburger Abendblatt gelungen.“

Zehn Tage gelebte Inklusion in der Norderstedter Redaktion des Hamburger Abendblatts haben nicht nur Michel Hinrichsen weiter gebracht. Wir Redakteure haben gelernt, wie normal Behinderungen sind. Und wie wenig behindernd im Redaktionsalltag. Nur in unseren Redaktions-Smart wollte der Rollstuhl auch mit drücken, schieben und quetschen partout nicht hineinpassen. Echt behindert, die Karre.