Sommerserie: Umland-Lust – rund um Hamburg auf Entdeckungstour. Heute: Draisine fahren und mehr in Ratzeburg

Am Ende des Tages bei der Erlebnisbahn Ratzeburg haben Erwachsene die Chance auf ein Kindheitsgefühl: das, sich müde gespielt zu haben. Vorher aber stehen drei Erkenntnisse: Ins Gepäck für einen Sommerausflug gehört Badebekleidung. Wer an den Füßen kitzlig ist, hat mehr Spaß beim Draisine fahren. Und jeder Garten braucht eine Lok, aus der man Bier zapfen kann – und Schienen, auf denen schmutziges Geschirr zur Küche gefahren wird.

Zu jedem Ausflug gehört ein Hinweg: Der nach Ratzeburg führt vorbei an grünen Feldern und mindestens einem See, auf dem sich bei gutem Wetter Segelboote über das Wasser pusten lassen und die Sonne glitzert, also vorbei an vielem von dem, was Schleswig-Holstein im Sommer wunderbar macht. Weil nur wunderbar als Ferienprogramm langweilig wird, bietet die Erlebnisbahn Touren an, zum Beispiel die 3-Muskel-Tour mit Drachenboot, Gruppenfahrrad und Handhebeldraisine, einem per Hand betriebenen Hilfsfahrzeug für Bahnmitarbeiter.

Treffpunkt ist das 3-Muskel-Café im Ratzeburger Bahnhof. Das Café ist nach der 3-Muskel-Tour benannt. Wer glaubt, die Muskel-Omnipräsenz sei rein phonetisch, irrt zumindest an diesem Tag. Die Fahrt ab 11.30 Uhr ist von einer Gruppe Auszubildender gebucht, zu deren Job es gehört, sportlich zu sein. „Grundfitness ist von Vorteil“, sagt Denis Völkers, 22, der hier neben seiner Ausbildung an den Wochenenden als Tourleiter arbeitet. „Aber die Zeit ist so kalkuliert, dass alle mitmachen können. Wir wollen ja nicht, dass jemand einen Herzkasper bekommt.“ Menschen, die stilistisch eher zurückhaltendes Mobiliar bevorzugen, sind trotzdem in Gefahr: Das Café ist eine Mischung aus Bahnhof und Strand, die Gäste sitzen in einem Raum auf alten Eisenbahnsesseln, einen Raum weiter fühlt man sich wie auf dem Meeresgrund: Wer an die Decke schaut, sieht den Rumpf eines Schiffs. An der nächsten Decke kleben Strandmatten und eine Kühlbox. Und an der Wand hängt eine große Karte der Umgebung.

Denis steht in rosafarbenem TShirt und mit verspiegelter Sonnenbrille am Ausschnitt davor und zeigt den Weg. „Wir fahren zuerst mit Draisinen etwa 4,5 Kilometer nach Schmilau. Danach geht es mit den Konferenzfahrrädern durch den Wald zur Farchauer Mühle.“ Die finale Etappe wird mit einem Drachenboot über den Küchensee gepaddelt.

„Attacke“, sagt ein Mann. „Los“, sagt Denis. „Fast“ sagt die Planung. Denn weil eine andere Gruppe abgesagt hat, sind noch nicht genug Draisinen da. Die Tour geht in beide Richtungen, eine andere Gruppe hätte früher mit dem Drachenboot starten und nun mit den Draisinen da sein sollen. „Das kommt vor, aber nicht oft“, sagt Denis. Er erklärt schon mal, wie man bremst, hebelt und den toten Punkt überwindet, nicht den eigenen, sondern den, wenn man beim Hebeln aus dem Takt gekommen und die Draisine im Leerlauf ist. Und wie man die Bahnübergänge sichert. „Das ist wichtig, sonst kommen Leute zu Tode, spucken und schreien“, sagt er und lacht. Spucken und schreien zumindest wird man an diesem Tag trotzdem beobachten.

Als die Draisinen dann angekommen sind, geht es los. Die Wagen rattern über die Schienen, das Vibrieren ist auch durch dicke Turnschuhsohlen zu spüren. Pumpen, pumpen, im Takt und mit Ehrgeiz: Kurz vor dem ersten Bahnübergang gibt es einen Autoscootermoment: Die Draisinen klacken gegeneinander. „Jaaaaaa!“, jubelt die Mannschaft. „Schnell, schnell“, feuern sie sich gegenseitig an, obwohl Überholen naturgemäß schwierig werden könnte. Egal. Schnell also die Schranke über den Schienen hoch, zwei Leute steigen ab und wedeln mit Fahnen, um Autofahrer zu warnen. Dann weiter. Pumpen, pumpen, bumm. 45 Minuten soll die Fahrt nach Schmilau dauern, mit dieser Gruppe taucht nach gefühlt der Hälfte der Zeit der Erlebnisbahnhof auf.

Der Erlebnisbahnhof ist wie das Café: bunt. Schmale Gleise führen über das Gelände, auf ihnen fahren Minidraisinen mit Kindern oder Geschirr, am Ende steht eine kleine Lok, die zur Zapfanlage umgebaut wurde. In Bahnwaggons gibt es einen Kiosk, Toiletten, Betten, eine Küche und eine Bühne. Unter anderem. „Und ich lebe in der großen Lok“, sagt Oliver Victor. Der 47- Jährige ist nach eigener Aussage „Initiator, Ideengeber, Macher und Entwickler“. Und er ist – wenn er denn Zeit hat, dem Besuch von sich zu erzählen – fast noch spannender als seine Touren. Er hat sich das alles ausgedacht. „Ich hab’ ja nie was gelernt“, sagt er, als er in seinem Baumcafé sitzt, einer Plattform in einem Baum über dem Kioskwaggon. „Aber ich bin selbstständig, seit ich 16 bin. Mit 18 habe ich mein erstes Haus abbezahlt.“ Er programmierte, bis er lieber etwas anderes machen wollte. Seit 1998 ist „das andere“ die Erlebnisbahn. „Ich wollte eine Welt schaffen zwischen Eisenbahn und Spielplatz.“ Viktor verkaufte das Haus und erstand dafür die Bahnstrecke. Inzwischen stehen in Schmilau 66 Waggons, gerade gab es den 500.000. Gast, eine Dame aus Kiel. Sie darf nun ein Jahr lang so oft herkommen, wie sie möchte.

Wenn sie mag, kann sie auf dem Erlebnisbahnhof auch übernachten. In Eisenbahnwaggons, die von Künstlern mit Länderthemen gestaltet wurden, auf dem Lampenkabel von Hawaii sitzt ein Tukan, in Afrika hat jemand einen Affenbrotbaum an die Wand gemalt. Und dann gibt es noch den Koffer. Eine laut Website „stilvolle Übernachtungsmöglichkeit für zwei Personen in Form eines Koffers, der in fünf Metern Höhe über dem Boden zu schweben scheint.“ Wer hier schläft, blickt auf Zahnbürsten an der Decke und eine Zahnpastatube als Bettpfosten. Der Koffer hat W-Lan.

Pro Saison zählen die Macher der Erlebnisbahn bis zu 40.000 Gäste

Denis’ Gruppe wird in einem der Waggons übernachten. Später. Denn zuerst geht es mit „6teambikes“ durch den Wald. Je sechs Leute strampeln mit einem Fahrrad durch Schmilau und den Fredeburger Wald. Viele haben ihre TShirts ausgezogen. Die Dorfbewohner begutachten die Ausflügler mit etwas, das wohl schwankt zwischen Unverständnis und Belustigung. „Es ist schon vorgekommen, das ein Fahrrad gegen ein Auto gefahren ist, das kommt natürlich nicht so gut an“, sagt Oliver Victor. „Wir schleusen hier pro Saison bis zu 40.000 Leute durch.“ An manchen Tagen seien auf dem Bahnhof mehr Leute als im Dorf wohnen. „High Five“, brüllt ein Jugendlicher auf dem Fahrrad. Die aufgeforderte Postbotin ignoriert.

An der Farchauer Mühle wird Pause gemacht. Die Menschen sitzen im Schatten von Bäumen und trinken Bier. Dann geht es ins Drachenboot. Oliver Victor steht am Steuer und wird etwas unruhig. „Das Boot ist gut gefüllt, wir haben wenig Luft bis zur Wasserlinie und es ist windig“, sagt er. Einmal im Jahr kentere ein Boot. Für 2014 steht das noch aus. „Eins ...und zwei... und drei...“ rufen alle im Chor. Bis zehn sind sie sich einig, ob es dann mit elf oder eins weitergehen soll, bleibt unklar bis zum Endpunkt der Tour, dem Strandbad der Schlosswiese. Hier wird es dann wieder wunderbar ohne Anstrengung. Wer eine Badehose dabei hat, springt vom Steg. Wer keine hat, guckt neidisch. Oder wird in Ausflugskleidung in den See geworfen. Denn das ist ja das wirklich Schöne an Ferien: Wer nass wird, hat Zeit zum Trocknen. Und die einzige Konferenz, an der man teilnehmen muss, wird auf dem Fahrrad abgehalten.