Professor Christian Martin, Politikwissenschaftler an der Uni Kiel, hält die Verwurzelung von Bundestagsabgeordneten in ihrem Wahlkreis für enorm wichtig

Hamburger Abendblatt:

Ein Bundestagsabgeordneter hat eine lange Parteikarriere in seinem Wahlkreis hinter sich, ein zweiter ist Quereinsteiger. Inwiefern unterscheidet sich Ihrer Beobachtung nach typischerweise die Arbeit des einen von der des anderen?

Prof. Christian Martin:

Wer sich in der Partei auskennt, hat es leichter. Er hat eher Zugang zu Netzwerken und kommt einfacher an Informationen. Allerdings ist das Phänomen des politischen Seiteneinsteigers in Deutschland viel weniger ausgeprägt als etwa in den USA. Das entspricht auch der unterschiedlichen Bedeutung der Fraktionsdisziplin, die in Deutschland wesentlich größer ist. Auch ein Seiteneinsteiger ist, sofern er einer Fraktion angehört – und das gilt für fast alle Bundestagsabgeordnete – in die Fraktion eingebunden und verrichtet dort seine Arbeit.

Für wie wichtig halten Sie es, dass ein Bundestagsabgeordneter in seinem Wahlkreis verwurzelt ist?

Martin:

Wir wählen ja in Deutschland nach einem Verhältniswahlrecht, das mit personalisierenden Elementen angereichert ist, eben den direkt in dem Wahlkreis antretenden Abgeordneten. Ich halte es für enorm wichtig, dass diese Abgeordneten in ihrem Wahlkreis präsent sind und die Interessen der Menschen in ihrem Wahlkreis in die Arbeit der Fraktion einbringen. Das trägt dazu bei, dass die regional unterschiedlichen Interessen im Parlament berücksichtigt werden können, das ja dann Entscheidungen für das ganze Land trifft. Die Verwurzelung des Abgeordneten in seinem Wahlkreis ist eine der Rückkopplungsschleifen im politischen Betrieb, die zur Legitimation des demokratischen Prozesses beitragen.

Wie groß sind die Möglichkeiten eines Bundestagsabgeordneten, in Berlin für seinen Wahlkreis Partei zu ergreifen?

Martin:

Man sollte diese Möglichkeiten nicht unterschätzen. Ein direkt gewählter Abgeordneter wird auch in seiner Partei gehört und wer in der Partei gehört wird, hat Einfluss. Natürlich kann ein Abgeordneter nicht nur die Interessen seines Wahlkreises vertreten, sondern muss auch das größere Ganze im Blick behalten. Eine Stärke des deutschen Systems ist die Mischung aus Direktmandaten und über Listen gewählten Abgeordneten. Das sorgt für eine gesunde Mischung in der Interessenvermittlung und trägt zur Kompromissbildung bei.

Wie beurteilen Sie die Zahl der Wahlkreise in der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise die der Parlamentarier in Berlin?

Martin:

Ich halte die Zahl der Wahlkreise für angemessen, auch im internationalen Vergleich. Wir haben im deutschen Bundestag 299 direkt gewählte Abgeordnete und 299 über Listen gewählte. Dazu kommen Überhangs- und Ausgleichsmandate, insgesamt sind das 631 Abgeordnete. Das ergibt etwa 130.000 Einwohner pro Abgeordneten. Zum Vergleich: Für Italien liegt diese Zahl bei etwa 100.000, für Frankreich bei 114.000, für Japan aber zum Beispiel bei 265.000. Deutschland liegt hier also im Mittelfeld und ich habe nicht den Eindruck, dass die Zahl der Abgeordneten dysfunktional groß oder klein wäre.