Die Krankenschwester Marina Walla-Reichardt arbeitet in der Palliativpflege. Die 53-Jährige sorgt dafür, dass Menschen in Würde und mit Respekt sterben können

Wie oft hat Marina Walla-Reichardt diesen Satz schon gehört? „Wir hatten noch so viel vor!“ Reisen, Versöhnungen, Konzertbesuche – viele Wünsche sterbenskranker Menschen und ihrer Angehörigen werden für immer unerfüllt bleiben, weil plötzlich das Ende so nahe ist. Schwester Marina, wie sie von vielen Patienten genannt wird, hat viele Geschichten gehört. Geschichten darüber, das immer alles im Leben wichtiger war als die eigenen Bedürfnisse. Geschichten von der Vorfreude auf den Ruhestand, in dem man es sich so richtig gut gehen lassen will. „Das hat mich verändert“, sagt die Henstedt-Ulzburgerin.

Jürgen Schneider (Name geändert) wird seinen Ruhestand nicht mehr erleben. 46 Kilo wiegt der 63-Jährige noch. Sprechen kann er nur noch mit Mühe, wenn er die Maske abnimmt, die ihm das Atmen erleichtern soll. Amyotrophe Lateralsklerose heißt die Krankheit, die unaufhaltsam immer mehr Körperteile lähmt und irgendwann zum Tod durch Ersticken führen wird. Wann es soweit ist, weiß niemand. Bis dahin begleiten Marina Walla-Reichardt und ihre Kollegen vom Kaltenkirchener Pflegedienst „Bliev to Huus“ Jürgen Schneider und seine Frau, führen lange Gespräche, kümmern sich um das Morphin und die vielen anderen Medikamente oder halten einfach nur eine Hand. Manchmal nehmen sie ihre Gesprächspartner einfach in den Arm. Palliativpflege nennen Fachleute diesen Job, von dem die meisten Menschen sagen: „Das könnte ich nicht.“

25 Patienten hat die 53-Jährige in vier Jahren bis zum Ende begleitet

„Ich lebe mehr im Augenblick und schaue weniger in die Zukunft“, sagt Marina Walla-Reichardt. „Ich erfülle mir Träume.“ 25 Patienten hat die 53-Jährige in den vergangenen vier Jahren bis zum Ende begleitet. „Viele sind erst Anfang 60.“ Die jüngste Patientin war 26, hatte kleine Kinder und litt unheilbar an Krebs. Schwester Marina und ihr Mann haben sich vor Kurzem ein Wohnmobil gekauft. Auch so ein Traum, der eigentlich erst im Ruhestand in Erfüllung gehen sollte. „Wir haben die Anschaffung vorgezogen“, sagt sie. Am liebsten fährt das Ehepaar nach Skandinavien in die Wildnis, wo kaum Menschen leben. „Die Natur ist meine Kraftquelle“ sagt sie.

Seit November betreut das Palliativteam Jürgen Schneider und seine Frau Christa. Mindestens einmal am Tag fahren die Pfleger zu dem stets picobello aufgeräumten Einfamilienhaus, außerdem kommt einmal pro Woche der ehrenamtliche Hospizdienst vorbei – Zeit für die Ehefrau, einkaufen zu gehen, sich in Ruhe in ein Café zu setzen oder eine Freundin zu treffen. „Wir müssen auch sehr auf die Ehefrau achten“, sagt Marina Walla-Reichardt. „Sie kommt an ihre Grenzen.“ Palliativpflege bedeutet zumeist, miteinander zu reden oder nur zuzuhören oder im Notfall, egal zu welcher Uhrzeit, akute Schmerzen zu bekämpfen und Beatmungsgeräte einzustellen. „Wir haben Zeit“, sagt Marina Walla-Reichardt. Die klassische Pflege – waschen, füttern, Medikamente geben – übernimmt entweder die Familie oder ein Pflegedienst. Marina Walla-Reichardt hat den Beruf der Krankenschwester gelernt, eine 160-stündige Zusatzausbildung für die Palliativpflege absolviert und sich als Pflegedienstleiterin ausbilden lassen. Sie ist Inhaberin des Pflegedienstes „Bliev to Huus“, der sechs Palliativpatienten zwischen Kaltenkirchen und Norderstedt betreut. „Ich will dafür sorgen, dass die Menschen in Würde und mit Respekt sterben“, sagt sie. „Es geht nicht ums Heilen.“

Die meisten Menschen wollen in vertrauter Umgebung auf den Tod warten

35 Jahre war Jürgen Schneider als Außendienstmitarbeiter in der Schifffahrtsbranche beschäftigt, ist mit der Deutsch-Afrika-Linie zur See gefahren und war auf der ganzen Welt unterwegs. Manchmal konnte seine Frau mitreisen. „Ich habe viel gearbeitet und würde es wieder so machen“, sagt er, nachdem er sich die Atemmaske vom Kopf gezogen hat. „Das hat mich erfüllt.“ Das Ehepaar hat zwei Kinder großgezogen. Zeit für ein Hobby oder einen Freundeskreis war knapp.

Schneider bekommt regelmäßig Morphin, das Medikament erleichtert die Atmung. Bewegen kann er sich nur mit Mühe. Die Krankheit, die im Jahr 2000 diagnostiziert wurde, hat seinen Körper fast lahmgelegt. Der 63-Jährige isst wenig. Das Kauen fällt ihm schwer, weil die Kiefermuskulatur verspannt ist. „Ich habe keine Erfahrung mit Schmerzen“, sagt Jürgen Schneider. Nein, er habe keine Angst vor dem Sterben. „Nur vor der Luftnot.“

Die Zahl der Palliativpatienten, die „Bliev to Huus“ betreut, steigt demnächst von sechs auf neun. „Es werden immer mehr“, sagt Marina Walla-Reichardt. Früher starben die meisten Menschen im Krankenhaus. Heute wollen die meisten zu Hause in vertrauter Umgebung auf den Tod warten. Wenn ein Mensch stirbt, unterscheide sich die Versorgung in Kliniken kaum von der ambulanten Pflege. „Dank guter Medizin bekommen auch wir die Schmerzen sehr gut in den Griff.“

Marina Walla-Reichardt macht Yoga und geht regelmäßig zur Supervision

Neun von zehn Freunden und Bekannten sind fort, sagt Jürgen Schneiders Frau Christa. Sie weiß, dass viele Menschen unsicher sind, wie sie mit einem Todkranken umgehen sollen. „Trotzdem ist das Verhalten verletzend“, sagt sie beim Kaffee mit Marina Walla-Reichard. Christa Schneider war 20 Jahre Küsterin; der Glaube gehört zu ihrem Leben. Ein Stütze, die ihrem Mann fehlt. „Das ist nicht mein Ding“, hat er stets gesagt. Die Freunde, die geblieben sind, raten ihr: „Vergiss dich nicht!“ Sie fährt Fahrrad, geht in den Garten und ist froh über den Hund, mit dem sie regelmäßig ausgehen muss. „Trotzdem fühle ich mich permanent unter Druck“, sagt sie. „Und ich bin auf alles gefasst.“ Wie ihr Mann beerdigt wird, hat sie mit den erwachsenen Kindern bis ins Detail geplant.

Marina Walla-Reichardt arbeitet nicht durchgehend in der Palliativpflege. Manchmal müsse sie Luft holen. „Dann gehe ich in die normale Pflege.“ Außerdem geht sie regelmäßig zur Supervision bei einer geschulten Krankenschwester und macht Yoga. Sie nennt das „Selbstpflege“.

Wie lebt sie mit diesem Job, der so unglaublich viel Empathie fordert? „Man bekommt sehr viel.“ Dankbarkeit und Anerkennung gehören dazu; bei manchen Hausbesuchen erlebt sie auch Freude. „Manchmal lachen die Patienten und ich. Dieser Beruf verändert die Lebenseinstellung.“