Angst und banges Warten prägen den Alltag der Naher Familie Hakopjan. Ihr Schicksal ist im Ort allgegenwärtig

Nahe. Artak Hakopjan hält Daumen und Zeigefinger vor sein Gesicht, lässt einen winzigen Freiraum von vielleicht einem halben Zentimeter dazwischen. Genau so, sagt er, hätten ihm Polizisten verdeutlichen wollen, dass seine Zeit in Deutschland abgelaufen sei. „Sie haben mir gesagt: So eine kleine Chance habt ihr noch.“

Das war am 31. Januar, als Artak, seine Ehefrau Karine und ihre Söhne Roman, Karen-Alex und Erik frühmorgens geweckt wurden. Unter großer Empörung von Nachbarn und Freunden brachten Einsatzkräfte und Mitarbeiter der Ausländerbehörde die Armenier nach Hamburg-Fuhlsbüttel. Der Flieger nach Moskau wartete, erst eine einstweilige Verfügung aufgrund eines Formfehlers stoppte die Abschiebung.

Der Fall hat im Kreis Segeberg viele Diskussionen und vielfältige Emotionen hervorgerufen. Die Anteilnahme war und ist immens, insbesondere in Nahe. Nicht zum ersten Mal steht die gängige Abschiebepraxis in der Kritik, wird gefragt, ob die heutigen Regelungen noch passen – und ob die Bundesrepublik tatsächlich hierzulande geborene Kinder in ein Land schicken soll, dessen Sprache und Gepflogenheiten für sie komplett neu wären.

Mittlerweile haben die Hakopjans zwei weitere Duldungsanträge bewilligt bekommen. Ein formaler Akt normalerweise – nicht aber mit dieser Vorgeschichte. Ohne Begleitung traut sich Karine nicht, die Behörde in Bad Segeberg zu betreten. Hinter jeder Tür, in jedem Moment geht sie immer noch davon aus, ein zweites Mal verhaftet zu werden. „Die Gedanken gehen einfach nicht weg.“

Die Kopfschmerzen kämen immer in der Nacht, sagt sie. „Erst morgens ab 7 Uhr wird es einfacher, wenn die Kinder zur Schule gefahren sind.“ Denn die Polizei, das wissen die Eltern, würde sie niemals ohne ihre Söhne mitnehmen.

Tagsüber, fast stündlich, bekommt Karine Anrufe von einer Freundin aus Norderstedt. Die macht sich Sorgen, hat Angst, möchte kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Ja, weil alle zu Hause sind. Nein, weil sie nicht wissen, wie lange sie noch in Nahe leben dürfen.

Sich ablenken zu können, ist schwierig. Manchmal hilft Karine in der Schul-Cafeteria aus. Wobei sie und ihre Familie dort allgegenwärtig sind – auf einer Stellwand sind die Entwicklungen seit Januar protokolliert, Fotos und Zeitungsartikel angepinnt. Auch beim Einkauf wird die Mutter erkannt von Menschen, die ihr Gesicht aus den Medien kennen. „Es war an der Kasse, da lächelte eine Frau und sagte: Sie bleiben hier.“

Wie ein geregelter Tagesablauf aussehen könnte? Deutschkurse, neue Jobs dank offizieller Arbeitsgenehmigungen – es gibt viele Szenarien. Aber Karine und Artak trauen sich nicht, zu planen. Nur wenn die Härtefallkommission in Kiel am 8. April eine Empfehlung zu ihren Gunsten ausspricht und Innenminister Andreas Breitner dieser auch folgt, haben sie wirklich eine Zukunft in Deutschland. Für Familie Hakopjan spricht, dass sie gut integriert sind, sich engagieren im Sportverein, in der Schule, in der Kirche. Negativ, und das ist keine Bagatelle, dass die Eltern erst spät ihre korrekte Identität mitteilten.

„Diesen einen Monat warten zu müssen, das fühlt sich an wie zehn Jahre“, sagt Artak. Zumal der Bewegungsradius begrenzt ist. Normalerweise nämlich dürfen Asylbewerber ihren jeweiligen Bezirk – hier: Kreis Segeberg – nicht verlassen. Residenzpflicht heißt das – sie ist umstritten. Nicht mehr zeitgemäß sei dies, sagt der Flüchtlingsrat und fordert: Jeder solle sich frei bewegen und seinen Wohnort entsprechend wählen dürfen. Und tatsächlich könnte es mittelfristig eine neue gesetzliche Regelung geben. Auf Bundesebene will sich die Große Koalition der Praxis annehmen, auf Länderebene wird der Ermessensspielraum schon jetzt mal mehr, mal weniger angewendet.

Ein Erlass des schleswig-holsteinischen Innenministeriums wies im Januar 2014 alle Behörden an, in jedem Einzelfall auch ohne Antrag zu prüfen, ob Ausländer ihren jeweiligen Bezirk auch ohne Erlaubnis verlassen dürfen. Ausgenommen hiervon sind Personen, deren Abschiebung beschlossen wurde. Stand heute dürften die Hakopjans also genaugenommen nicht einmal das benachbarte Tangstedt in Richtung Norderstedt durchqueren, weil der Kreis Stormarn formal tabu ist.