Neue Medien, Gewalt unter Schülern, Lehrerausbildung: Im Interview spricht die ehemalige Schulrätin Marianne Böttcher darüber, wie sie den Wandel an den Schulen erlebt hat

Kreis Segeberg. Lehrerin, Schulleiterin, Schulrätin: Marianne Böttcher hat erlebt, wie sich die Schule, die Schüler, die Lehrer und die Eltern in vier Jahrzehnten geändert haben. 20 Jahre war die 63 Jahre alte Pädagogin Schulrätin in den Kreisen Segeberg und Ostholstein. Ende vergangenen Jahres hat sie sich in den Ruhestand verabschiedet. Ihrem alten Beruf aber bleibt sie verbunden: Die Segebergerin ist immer noch Vorsitzende des Schulräteverbandes Schleswig-Holstein. Dieser Verband nimmt unter anderem Stellung zu bundespolitischen Schulthemen. Das Hamburger Abendblatt sprach mit Marianne Böttcher über den Wandel der Schule.

Hamburger Abendblatt:

Jede Regierung will in der Schulpolitik Akzente setzen. Wie haben Sie die vielen Änderungen im Laufe der Jahrzehnte erlebt und verkraftet?

Marianne Böttcher:

Ich habe fünf unterschiedliche Schulgesetze erlebt, im Laufe der Jahre wurde immer schneller gewechselt. Aber es ist nicht in Ordnung, wenn sich Lehrer nicht verändern wollen. Die Schüler haben sich verändert, da können die Lehrer die Veränderungen nicht aussitzen und sagen, sie wollen auf eine neue Regierung warten.

Wie sehr haben Ihnen die Regierungswechsel zu schaffen gemacht?

Böttcher:

Als die FDP 2009 in die Regierung kam, hat der damalige Minister für Bildung und Kultur, Ekkehard Klug, versucht, viele Errungenschaften wieder zurückzudrehen, was uns große Schwierigkeiten bereitet hat. Er wollte keinen jahrgangsübergreifenden Unterricht und keine Binnendifferenzierung. Das war problematisch, weil sich viele Schulen und Lehrkräfte bereits auf den Weg gemacht hatten und es als richtig empfanden.

Wie hat sich der Unterricht seit Ihrer eigenen Zeit als Schülerin verändert?

Böttcher:

In den 50er-Jahren waren 40 Kinder in einer Klasse – und es funktionierte, weil die Kinder ruhiger und angepasster waren als heute. Sie hatten gelernt zu gehorchen. Nicht umsonst ist aus diesen angepassten Kinder von damals die 68er-Generation geworden. Sie haben später rebelliert. Heute werden die Stärken der Schüler erkannt und gefördert.

Früher hatten Kinder andere Interessen.

Böttcher:

Das stimmt. Die Kinder hatten mehr Freiheiten, haben mehr in der Natur getobt. Draußen sein war wichtig – auf ganz andere Weise als heute natürlich.

Heute stehen die neuen Medien im Vordergrund.

Böttcher:

Persönlich sehe ich das als Nachteil. Aber wie es sich tatsächlich auswirkt, wird man erst in 20 Jahren sagen können. Aber wir sollten nicht nur die Nachteile sehen, das alles bringt ja auch Vorteile mit sich. Schule und Eltern müssen lernen, damit umzugehen und darauf eingehen. Für die Alten ist es natürlich nicht einfach, sich die aktuellen Informationen anzueignen und auf dem Laufenden zu bleiben. Grundsätzlich sollten die neuen Medien an den Schulen eine größere Rolle spielen.

Es heißt oft, die Schüler seien aggressiver geworden.

Böttcher:

Geprügelt wurde natürlich immer schon, aber heute ist es härter geworden. Kinder, die keine klaren Erziehungsspielräume haben, verlieren den Halt. Ein solches Kind kann nur aggressiv werden oder sich in sich selbst zurückziehen. Viele Kinder müssen sich heute nichts mehr selbst erarbeiten, aber das gehört zum Erwachsenwerden, um später Schwierigkeiten im Leben meistern zu können. Zu vieles fällt den Schülern heute in den Schoß.

Ist auch bei den Mädchen eine zunehmende Aggressivität zu beobachten?

Böttcher:

Ja, sie sind kampfbereiter geworden.

Was ist der Grund dafür?

Böttcher:

Viele Mädchen nehmen ihre erlernten Rollen nicht mehr an. Um es mal volkstümlich auszudrücken: Heute ist oft nicht mehr Kevin der Böse, sondern Chantalle.

Werden die Jungs von den Mädchen verdrängt?

Böttcher:

Es ist tatsächlich so, dass die Jungs die Verlierer des Schulsystems sind. Schon in den Kindergärten und in den Grundschulen sind die Frauen das prägende Geschlecht. Die Jungen kommen dort oft nicht zu ihrem Recht. Ich habe immer beobachtet, dass Jungs auf junge männliche Lehrer fliegen, aber davon gibt es in den Grundschulen leider zu wenige. Die Grundschulen brauchen dringend mehr Männer. Hinzu kommt: Mädchen sind oft pflegeleichter, die Jungs rebellieren vielleicht doch mehr. Dadurch können sie den Kontakt zum Unterrichtsstoff verlieren. Ich sage immer, die Jungs in den siebten und achten Klassen, bei denen die Pubertät besonders ausgeprägt ist, sollten auf einen Bauernhof geschickt werden, um sich körperlich auspowern zu können.

Halten Sie das Abitur nach acht Jahren für sinnvoll?

Böttcher:

G8 ist meiner Ansicht nach sinnvoll. Zunächst hatte ich gedacht, dass der Stoff in den Oberstufen komprimiert wird, aber tatsächlich geschieht das schon in den siebten und achten Klassen. Und dort gibt es wieder das Problem mit den pubertierenden und rebellierenden männlichen Schülern, die zu viel mit sich selbst zu tun haben.

Was halten Sie vom neuen Schulsystem in Schleswig-Holstein?

Böttcher:

Das war eine Notwendigkeit, denn die Säule Hauptschule war ja weggebrochen. Das neue zweigliedrige Schulsystem halte ich für gut. Das von der CDU geförderte Modell der Regionalschule war nicht sinnvoll, aber durch die Aufgabe der Regionalschulen herrscht mehr Klarheit für die Eltern. Allerdings glaube ich nicht, dass viele Eltern den Unterschied zwischen Regionalschule und Gemeinschaftsschule verstanden haben. Damit hatten oft ja auch Experten ihre Probleme.

Warum war das dreigliedrige Schulsystem am Ende?

Böttcher:

Die Schüler wurden früh in eine Schublade gesteckt, aus der sie nicht mehr herausgekommen sind. Die Kinder, aber auch teilweise die Lehrer haben sich in den Hauptschulen als Rest gefühlt.

Warum beherrschen junge Menschen die Rechtschreibung nicht? Wird das Lesen und Schreiben in den Schulen nicht mehr richtig vermittelt?

Böttcher:

Das Leseverhalten hat sich durch die Leseförderprogramme deutlich verbessert. Ich selbst war früher eine Leseratte, aber damals gab es ja auch noch keine neuen Medien, oft noch nicht einmal ein Fernsehgerät im Haushalt. Das ist heute natürlich ganz anders. Die Rechtschreibung war immer ein Problem, aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Franzosen in dieser Hinsicht viel schrecklicher sind als wir. Ich bin in Frankreich vier Jahre zur Schule gegangen. Die Deutschen sind sehr korrekt, vielleicht sollten wir das ein bisschen lockerer sehen.

Wie stehen Sie zum lautgetreuen Schreiben an den Grundschulen?

Böttcher:

Ich tue mich damit schwer. Wenn ich früher in den Schulklassen von den Schülern gefertigte Plakate mit falscher Rechtschreibung gesehen habe, bin ich eingeschritten und habe die Lehrer gebeten, sie lieber abzunehmen. Inzwischen gibt es ja auch in Schleswig-Holstein Bestrebungen, das lautgetreue Schreiben abzuschaffen.

Erinnern Sie sich noch an die Mengenlehre, die vor 40 Jahren plötzlich eine große Rolle im Matheunterricht gespielt hat und mit der viele Eltern überhaupt nichts anfangen konnten? Die Diskussionen über das Für und Wider waren damals heftig.

Böttcher:

Natürlich erinnere ich mich, aber das Thema war einfach zu überbetont – so wie vieles andere auch. Heute ist die Mengenlehre immer noch vorhanden, aber als ganz normales Thema im Unterricht.

Was hat sich im Laufe der Jahrzehnte bei der Lehrerausbildung verändert?

Böttcher:

Die war lange Zeit zu wenig praxisbezogen. Ich selbst wurde an der Pädagogischen Hochschule in dieser Hinsicht noch gut ausgebildet, dann aber mussten künftige Pädagogen an der Uni studieren, dort war die Lehrerausbildung aber nur ein „Abfallprodukt“. Irgendwann hat man gemerkt, dass es so nicht geht. Inzwischen ist die Ausbildung wieder deutlich praxisbezogener geworden. Die Universität Flensburg hat das Praxissemester eingeführt, die Universität Kiel wird folgen.

Der Pädagoge John Hattie aus Neuseeland stellt in seiner berühmten Studie den Lehrer wieder in Mittelpunkt.

Böttcher:

Die Studie sagt aus, dass die Unterrichtsmethode eher zweitrangig ist. Lernen kann nur funktionieren, wenn das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern gut ist. Aber jeder Mensch kann schließlich nur eine bestimmte Bandbreite anbieten. Ein Lehrer muss die Kinder und sich selbst mögen.