Trotz eindeutiger Hinweise erkannte niemand das Leid der Zwillingsbrüder, die jahrelang misshandelt wurden

Kreis Segeberg. Der Fall löst entsetzen aus: Das Schicksal der heute 28 Jahre alten Zwillingsbrüder, die fast zehn Jahre verwahrlost und ohne ausreichend Nahrung in Kellerverschlägen leben mussten, hat nicht nur die Menschen im Kreis Segeberg aufgewühlt. „Ich muss gestehen, solche Schilderungen über den Aufenthalt in einer Pflegestelle habe ich bisher eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert zugeordnet“, sagt der Leiter des Jugendamtes beim Kreis Segeberg, Manfred Stankat. Er nahm während einer Sitzung des Jugendhilfeausschusses Stellung zu dem Fall, den die Staatsanwaltschaft wegen Verjährung nicht weiter verfolgen konnte.

Sebastian und Christian, so die fiktiven Namen der Zwillinge, waren 1994 zu einer Pflegefamilie nach Boostedt gekommen, weil ihre eigenen Eltern nicht in der Lage waren, sich um die Kinder zu kümmern. Nach anfänglicher Harmonie begann die Pflegemutter unter Billigung ihres Mannes, eigenwillige Erziehungsmethoden zu pflegen, die schließlich darin gipfelten, dass die beiden Brüder in den Keller gesperrt wurden. Einer der beiden Brüder veröffentlichte Ende 2013 das Buch „Misshandelt – verjährt. Kinderschänder auf freiem Fuß“, in dem er die Geschehnisse zwischen 1994 und 2001 beschrieb: Tagelang weder Essen noch Trinken, Verschmutzung, Verwahrlosung, Misshandlungen, vergitterte Kellerfenster.

Das Kreisjugendamt arbeitete den Fall sorgfältig auf und kommt zu dem Ergebnis: „Wären diese Vorfälle oder Taten von uns als Jugendamt wahrgenommen worden, hätte dies bereits damals, erst recht aber heute zu einer sofortigen Herausnahme der Kinder und zu einer Strafverfolgung der Pflegeeltern geführt“, heißt es in der Stellungnahme des Jugendamtsleiters Manfred Stankat.

Warum aber hat das Jugendamt damals nicht reagiert? Denn es gab zumindest einen Hinweis aus dem familiären Umfeld der Pflegefamilie über „eine zu große Strenge der Pflegemutter im Umgang mit den Kindern“. Tatsächlich ist der zuständige Sozialpädagoge aktiv geworden, hat die Pflegefamilie besucht, fand aber nichts, womit die Hinweise bestätigt werden konnten. Im Aussehen und im Verhalten habe der Sozialpädagoge keinen Hinweis auf Vernachlässigung oder Misshandlung erkennen können. Die Hinweise seien als zeitweise Überforderung interpretiert und mit den Hinweis auf Beratungs- und Hilfsangebote beantwortet worden. Manfred Stankat relativiert die damalige Aussage: „Das ist natürlich heute, zwanzig Jahre später, und im Licht der öffentlichen Wahrnehmung des Falls eine Ohrfeige für die Opfer. Aber man sieht nur, was man weiß oder was man sucht und findet. Warum man über die wirklichen Lebensverhältnisse der Kinder nichts erfuhr, wusste oder suchte, müssen wir hier im Rahmen einer Fallwerkstatt aufklären.“

Der Fall der Zwillinge sei in der damals üblichen Form und als „klassischer Jugendhilfe-Fall“ mit typischen Verhaltensauffälligkeiten der bisher ohne Elternhaus aufgewachsenen Kinder bearbeitet worden. „Aber ohne die heute üblichen persönlichen Kontakte des Vormundes zum Kind und auch ohne häufige oder gar unangemeldete Kontrollbesuche des Pflegekinderdienstes.“

Manfred Stankat geht davon aus, dass heute sowohl die Vormünder als auch der Pflegekinderdienst die Fallarbeit mit andere Standards betreiben, als dies vor 20 Jahren Praxis gewesen sei. Eine eingegangene Fremdmeldung, wie im Jahre 1994 von einer nahen Verwandten der Pflegemutter, würde heute zwingend eine fachliche Gefährdeneinschätzung durch mehrere Fachkräfte und auslösen.

Die Aufarbeitung des Falles durch des Kreisjugendamt ist auch eine Folge der Buchveröffentlichung. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren am 6.März 2013 eingestellt – einerseits wegen Verjährung, andererseits, weil „ein Quälen oder rohes Misshandeln“ im Sinne des Strafgesetzbuches nicht habe konkretisiert werden können. Die Zwillinge waren nach so langer Zeit nicht mehr in der Lage, genaue Zeitangaben zu den Vorfällen zu machen. Der Hinweis der Staatsanwaltschaft an das Jugendamt, den Vorgang gegebenenfalls intern aufzuarbeiten und weitere ähnliche Vorfälle zu vermeiden, sei der Landrätin oder dem Jugendamt jedoch nicht „ausdrücklich“ mitgeteilt worden, erklärt Manfred Stankat. So seien die Unterlagen in der Registratur gelandet.

Und dort hätten sie vermutlich jetzt noch geschlummert, wenn der Jugendamtsleiter nicht plötzlich durch Presseanfragen nach der Veröffentlichung des Buches im Dezember vergangenen Jahres aufgeschreckt worden wäre. Unverständlich bleibt trotzdem, warum nicht vorher aus eigenem Antrieb gehandelt wurde. Denn schon 2011 hatten sich die Brüder unter Vermittlung und Begleitung eines Seelsorgers an das Jugendamt gewandt.

Der betroffene Zwillingsbruder Fabian, der das Buch unter dem Pseudonym „Pee“ geschrieben hat, findet die Bemühungen des Jugendamtes, die Problematik mit Hilfe einer Fallwerkstatt aufzuklären, gut, aber sie kommen seiner Ansicht nach viel zu spät. „Es ist ein so großer Schaden entstanden, und keiner will dafür die Verantwortung übernehmen.“ Er klagt an: „Warum wurde vom Jugendamt erst reagiert, nachdem der Fall an die Öffentlichkeit gelangt ist?“