GEW fordert 100 Lehrer mehr für das gemeinsame Lernen von nicht behinderten und Kindern mit Förderbedarf

Kreis Segeberg. Rund 100 Lehrer zusätzlich und vor allem ein Konzept für die Inklusion – das fordert die Lehrergewerkschaft GEW im Kreis Segeberg. Nur so könne das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern funktionieren. „Wenn wir die Schulen nicht besser ausstatten, fahren wir die Inklusion an die Wand, noch bevor sie überhaupt richtig begonnen hat“, sagt die GEW-Kreisvorsitzende Sabine Duggen, die zugleich betont, dass der pädagogische Ansatz, alle Kinder zusammen zu unterrichten, durchaus sinnvoll sei.

Zwar rühme sich Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Waltraud Wende damit, dass im nördlichsten Bundesland schon 60 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen und das bundesweit ein Spitzenwert sei, aber: „Der Schulalltag spricht eine andere Sprache“, sagt die GEW-Kreischefin. Viele Lehrer seien überfordert und am Ende ihrer Kraft, die Motivation bleibe auf der Strecke. Bis zu 30 Kinder in den Grundschulklassen, schon ohne Inklusion oft eine Mischung, die viel Einsatz und Einfühlungsvermögen erfordere. Da sollen blinde und taube Schüler, Autisten, hyperaktive und lernbehinderte, ausländische und aggressive sowie Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen gemeinsam die Welt der Zahlen begreifen, das Lesen und Schreiben lernen.

Sabine Duggen verweist auf Ulrich Hase, den Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen. Er habe schon von den Inklusions-Verlierern gesprochen – von den Kindern, die eigentlich vom gemeinsamen Lernen profitieren und „glücklicher“ werden sollen.

„Gerade die Kinder, die besonders gefördert werden müssen, bleiben auf der Strecke. Sie merken in jeder Stunde, dass sie überfordert sind, die Leistung nicht bringen können, schämen sich und ziehen sich zurück, weil sie immer die Letzten sind“, sagt Sabine Duggen.

Doch auch insgesamt sinke das Niveau. Der Grund: Es fehlen Stunden, in denen Sonderschullehrer Defizite ausgleichen können. „Früher waren wir mit je zehn Stunden in zwei Klassen, heute springen wir von Schule zu Schule und schaffen es bei Weitem nicht, den Bedarf zu decken“, sagt Christian Steenbock, der als Sonderschullehrer am Förderzentrum Erich-Kästner-Schule in Norderstedt arbeitet – ein Auslaufmodell, langfristig soll die Zahl der 89 Förderzentren im Land deutlich zurückgefahren werden.

Laut Schulgesetz ist die Inklusion in Schleswig-Holstein der Regelfall

Das neue Schulgesetz sieht Inklusion als Regelfall, den Unterricht an Förderzentren als Ausnahme vor. Kinder, die in ihrer geistigen Entwicklung gefördert werden müssen, bekommen vier sonderpädagogische Förderstunden, bei Lernverzögerungen gibt es zwei Stunden extra. „Das ist viel zu wenig, es geht ja nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, Vertrauen aufzubauen“, sagt Steenbock.

Viele Lehrer gehen nach Hamburg, wo sie sofort verbeamtet werden

Doch selbst, wenn das Land Geld für zusätzliche Lehrkräfte bewilligen würde: „Es gibt keine Sonderschullehrer in Norderstedt und Umgebung, der Markt ist leer gefegt“, sagt der Sonderschulpädagoge. Viele gehen gleich nach Hamburg. Dort würden sie sofort verbeamtet und müssten nicht rumreisen. Ohnehin sei der Stadtstaat bei der Inklusion schon weiter, vor allem seien die Klassen kleiner.

Gerade in den ersten Klassen müssten zwei Lehrer für mindestens zehn Stunden in Deutsch und Mathe zur Verfügung stehen. Da die die Überprüfung der Schulreife, wie sie früher obligatorisch war, weggefallen sei und nun alle Kinder in einer Klasse lernen, gehe die Schere enorm weit auseinander. „Da sitzt dann das schwer mehrfach behinderte Kind mit offenem Mund und schaukelt vor sich, da rennt einer, der nicht stillsitzen kann, durch die Klasse, ein anderer macht den Unterricht durch wiederholtes Schreien unmöglich“, sagt Sabine Duggen, die auch mit dem Begriff „Inklusion“ Probleme hat: Das Wort bedeute Einschluss, aber manche Kinder müssten mal raus aus dem Klassenverbund, weil sie es einfach nicht mehr aushalten.

Und die GEW-Chefin sieht ein weiteres Problem im inklusiven Schulalltag: An den Regional- und Gemeinschaftsschulen unterrichteten überwiegend Realschullehrer, die auf die sonderpädagogischen Herausforderungen des Lernens für alle überhaupt nicht vorbereitet seien. „Inklusion heißt auch: Da sitzen in der fünften Klasse Kinder, die kaum lesen können, mit anderen zusammen, die ein Buch nach dem anderen verschlingen“, sagt die GEW-Sprecherin, die sich durch Aussagen von Elternvertretern bestärkt sieht.

Der schleswig-holsteinische Elternverein hatte die schlechte Ausstattung der Schulen beklagt und einen doppelten Negativeffekt moniert: Die Kinder, die von der Inklusion profitieren sollen, leiden. Die Bildungschancen der normalen Kinder werden beeinträchtigt, sie könnten nicht genug Wissen tanken. Der Landeselternbeirat hat festgestellt, dass es bei der Inklusion „noch ein großes schwarzes Loch“ gebe. Fazit der GEW-Vorsitzenden: Es fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept.

„Die Spitzenquote ist zwar schön, aber das reicht uns nicht. Wir brauchen bei der Inklusion Qualität“, sagt Thomas Schunck, Sprecher von Bildungsministerin Waltraud Wende, die im Frühjahr ein Konzept vorlegen will. Landesweit 1000 zusätzliche Lehrer, wie sie die GEW fordert, lösten die Probleme nicht. Gebraucht würden sonderpädagogische Experten, die Lehrer, die jetzt an den Schulen arbeiteten, müssten entsprechend weitergebildet werden. Zudem verhandele die Ministerin mit ihrer Kabinettskollegin Kristin Alheit, zuständig für Soziales. Es gehe darum, so Schunck, Mittel aus beiden Bereichen zu bündeln und möglichst effizient einzusetzen.