Die Aufgabe der Rinkieker ist es, zuzuhören, zu reden und etwas Abwechslung in das oft einsame Leben der Kranken und Alten zu bringen

Früher hat der Alte öfter vorbeigeschaut. Mit seinem Auto hat er sich zu seinem Kumpel Benno nach Weddelbrook aufgemacht, hat die Ein-Zimmer-Wohnung hinter der Dorfgrenze zwischen Wiesen und Feldern angesteuert und sich zum Quatschen in die Küche gesetzt. Im Winter war es dort immer ein bisschen zu kalt, weil Bennos Vermieterin auch an der Heizung spart. Sein Kaffee war stets heiß. Danach sind die Männer nach Bad Bramstedt gefahren und haben für Benno eingekauft. Allein schafft er den Weg nicht mehr - bepackt mit Lebensmitteln erst recht nicht. Benno ist 80 Jahre alt, sein Kumpel 79. Trotzdem nennt Benno ihn "der Alte". Er war jahrelang der Einzige, den Benno noch zum Quatschen hatte.

Zweimal hat der Alte ihm das Leben gerettet. Einmal war Benno aus der Badewanne gestürzt und hatte 30 Stunden hilflos am Boden gelegen. Der Alte fand ihn und rief den Rettungswagen. Auch als Benno aus dem Bett fiel und sich nicht helfen konnte, war der Alte der Retter.

Dann kam der Alte gar nicht mehr. Er hat Krebs. Benno besuchte ihn in Neumünster im Krankenhaus und ahnte sofort, dass es mit seinem Freund zu Ende gehen würde. Der Raum war abgedunkelt und still. Kurz nach dem Besuch wurde der Alte in ein Hospiz nach Hamburg verlegt. Dass er sich dort ein bisschen erholen würde, damit hat niemand gerechnet. Manchmal darf er das Hospiz verlassen. Dann setzt sich der Alte in sein Auto, fährt erst zur Tafel nach Kaltenkirchen und besorgt dort Lebensmittel für Benno. Dann steuert er die kleine Wohnung am Rand des Dorfes an. Einen Bart und Haare auf dem Kopf hat der Alte nach der Chemotherapie nicht mehr. "Du siehst jetzt viel besser aus", sagt Benno.

Einmal im Monat kommt der Alte nach Weddelbrook. Um einen Menschen zum Quatschen zu haben, ist das selten. Benno hat viel zu erzählen aus einem Leben.

Seit November 2012 schaut Manfred Scholz öfter bei ihm vorbei. Auch er sitzt bei heißem Kaffee am Küchentisch, manchmal bringt er selbst gebackenen Kuchen von seiner Frau mit. Wenn "Herr Scholz" kommt, dreht Benno die elektrische Heizung auf. Das kostet jede Menge Strom, aber dieser Besucher ist ihm das wert.

Manfred Scholz war bis zur Rente Redakteur, jetzt ist er Rinkieker

Bis zum November 2012 kannten sich die Männer nicht. Manfred Scholz ist 65 Jahre alt, lebt in Bad Bramstedt und hat bis zu seiner Rente als Redakteur bei einem großen Verlag in Hamburg gearbeitet. Danach ist er Rinkieker geworden, einer der reinschaut, nach dem Rechten sieht. Einer, der zum Quatschen da ist. Einer, der ehrenamtlich gegen die Einsamkeit der Kranken und Alten arbeitet. "Der Rinkieker bringt einen Teil des Lebens in die Häuser", sagt Scholz. Auch seine Beaglehündin Joya war schon bei Benno zu Gast.

Sechs Rinkieker sind ehrenamtlich in Bad Bramstedt und den Nachbardörfer unterwegs. Zuhören und reden - das sind ihre wichtigsten Aufgaben. Vertraute Menschen wie den Alten oder Bennos Hildegard, die vor zwölf Jahren starb, können sie nicht ersetzen. Benno hat ihr Foto stets griffbereit.

Benno ist für Herrn Scholz Herr Ochs. Die Männer kennen sich inzwischen gut. "Wir lachen viel", sagen sie. Manchmal reden sie über Hildegard, manchmal über Fußball, Boxen oder über alte Zeiten. "Ich habe viel Respekt vor Herrn Ochs", sagt Manfred Scholz. "Darum würde ich ihn nie duzen." Einen festen Termin für die Treffen vereinbaren sie nie, einmal in der Woche schaut Scholz vorbei. "Er kann kommen, wann er will, und dann können wir reden", sagt Benno. In der Regel bleiben die Rinkieker eine Stunde bei ihren Gastgebern. "Ich finde es meistens so spannend hier, dass es dann zwei werden", sagt Manfred Scholz.

Morgens und abends kommt der Pflegedienst, außerdem unterstützt eine Haushaltshilfe Benno. Doch zum Reden haben die Besucher kaum Zeit. Nur Herr Scholz und manchmal der Alte kommen zum Kaffee in die Küche. Benno leidet unter Diabetes, doch Kekse stehen immer auf dem Tisch. Süßigkeiten sind der Luxus, den er sich leistet. Mehr geht nicht. Benno lebt von Hartz IV. "Ich bekomme alles hin und koche auch selbst", sagt der 80-Jährige. "Aber mit dem Geld haut es nicht hin."

Herr Ochs und Herr Scholz reden oft darüber, wie es früher war. Benno Ochs hatte eine Familie und verdiente als Steinsetzer viel Geld. "In ganz Deutschland war ich unterwegs und hab zwölf bis 14 Stunden am Tag Steine gekloppt", erzählt er. "Ob ich ein guter Vater war, weiß ich nicht. Ich war ja nie zu Hause." Seine Kinder wollen keinen Kontakt. Darüber zu reden, fällt Benno schwer.

"Ich wohne ab vom Schuss, aber das ist okay", sagt Benno. "Was würde es ändern, wenn ich in der Stadt leben würde?" Erst vor wenigen Monaten kam er in der kleinen Wohnung unter. Noch nicht einmal alle Kartons hat er ausgepackt, auf dem Schreibtisch stapeln sich ungeöffnete Briefumschläge. "Ich habe einfach keinen Nerv dafür."

"Die Seele muss doch etwas zu tun bekommen", sagt Benno

Manfred Scholz kennt die lange Geschichte, die Benno in das Haus geführt hat, das hinter der Ecke an der Landstraße leicht zu übersehen ist. Früher haben Benno und Hildegard in Bimöhlen in einem schönen Haus gelebt. 24 Jahre waren beiden zusammen. Als sie vor zwölf Jahren starb, fing er an, dort seinen Lebensabend zu planen - "wenn es denn einen Abend gibt".

Benno trauerte. "Als sie starb, wurde es dunkel", sagt er. Doch er kam zurecht und hat sein Leben in Ordnung gehalten. Bis er im vergangenen Jahr sein Wohnung verlassen musste. Sein Vermieter hat ihn rausgeklagt. "Ich dachte, einen Mann von 80 Jahren schmeißt man nicht raus", sagt Benno. Er hat sich geirrt. Der Streit über die Kündigung habe ihm gesundheitlich den Rest gegeben.

Benno war in der Psychiatrie, hat eine schwere Operation am Kopf hinter sich, wollte nicht nach Weddelbrook und sitzt jetzt doch am Küchentisch mit Manfred Scholz und redet. "Die Seele muss doch etwas zu tun bekommen", sagt Benno.

In einer Woche kommt Manfred Scholz wieder. Und hoffentlich schaut auch der Alte mal wieder rein.