Die Regeln der Justiz nötigen den Laien zuweilen zu gedanklicher Akrobatik. Schaut man sich den Fall Heinrich W. an, stößt der Betrachter auf einen scheinbaren Widerspruch: Der Mann ist dringend tatverdächtig, seine Frau getötet zu haben. Deswegen sitzt er in Untersuchungshaft. Gleichzeitig gilt der Elblotse jedoch als unschuldig, solange er nicht von einem Gericht verurteilt wird.

Um es noch deutlicher zu formulieren: W. muss hinter Gittern auf seinen Prozess warten, weil er eines Verbrechens beschuldigt wird, das mit einer langen Haft bestraft wird. Andererseits kann niemand ausschließen, dass er wider Erwarten doch freigesprochen wird, weil er möglicherweise zur Tatzeit nicht schuldfähig war. Oder die Beweisaufnahme des Gerichts führt zu einem völlig anderen Ergebnis als die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft, und W. wird freigesprochen. Solche überraschenden Wendungen sind im Gerichtssaal nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit.

Dass der Ausgang des Verfahrens ungewiss ist, muss zwingend dazu führen, dass der Staat nicht lange warten darf, bis er Recht spricht. Darauf hat der Angeklagte nach dem Gesetz einen Anspruch. Aber nicht nur er: Auch die Menschen im Umfeld von Täter und Opfer müssen darauf vertrauen können, dass die Justiz ihnen die Chance gibt, die grausige Tat zu verarbeiten.

Diese Chance sind auch die Politiker, die die Etats der Justiz genehmigen, der Gesellschaft schuldig.