Im Sommer 2012 entdeckt die Polizei in einem verschlossenen Keller in Bad Segeberg einen kleinen Jungen. Das Kind kann kaum sprechen, steht in seinem Kot und ist völlig verstört. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Eltern und das Jugendamt. Die Medien berichteten ausführlich über den Skandal, doch der öffentliche Aufschrei blieb aus.

Im Dezember 2012 veröffentlicht ein Unbekannter im Internet ein Video, das einen Hundetrainer zeigt, der einem brandgefährlichen Hund einen Blechnapf auf den Kopf schlägt. Wegen seiner Beißattacken war der Hund bereits zur Tötung freigegeben. Glaubt man dem Chef der Hundeschule, ging nach dem Training keine Gefahr mehr von dem Tier aus.

Dieser Veröffentlichung folgten massenhafte Proteste im Internet. Ein "Shitstorm" ergießt sich über eine Familie. Eine gewaltige Anzahl von Kritikern meldet sich zu Wort. Konfrontiert mit massiven Drohungen fühlen sich der Trainer und seine Angehörigen nicht mehr sicher. Die Polizei ermittelt.

Ohne Frage muss eine Diskussion darüber erlaubt sein, ob die im Video gezeigte Erziehungsmethode als Tierquälerei einzuordnen ist. Doch selbst Wissenschaftler trauen sich kaum noch, in Fragen des Tierschutzes eindeutig Stellung zu beziehen, weil sie den virtuellen Mob fürchten. Im Schutz der Anonymität werden Menschen zu Straftätern, die sich zum Schutz der Tiere berufen fühlen, die Würde eines Menschen jedoch außer A5cht lassen.

Außerdem muss die Frage erlaubt sein, warum eine vermeintliche Tierquälerei mehr Menschen auf die Barrikaden bringt als beispielsweise das Schicksal des kleinen Jungen. Wo bleibt der Aufschrei, wenn alte Menschen im Heim schlecht behandelt werden? Hat jemand schon mal von einem Shitstorm gehört, weil jahrelang Hartz-IV-Empfänger in einem verwahrlosten Hochhaus in Kaltenkirchen hausen mussten?

Die Gesellschaft lebt von der Kritik - aber nur, wenn die Maßstäbe stimmen.