Der Kreis Segeberg will den Mitarbeiterinnen der Frühförderungen die Zeit für Vor- und Nachbereitung kürzen. Dagegen laufen diese Sturm.

Norderstedt. Furchtlos klettert Philipp Winkler auf die hölzerne Sprossenwand in einem der Therapieräume in der Frühförderung Norderstedt. Dem Fünfjährigen macht es sichtlich Spaß herumzutollen. Immer wieder erklimmt er die Sprossen, steigt hinauf bis in luftige Höhen und bereitet sich auf den Absprung vor: Mit einem Ausfallschritt in Skisprungmanier landet er so gekonnt auf der blauen Weichbodenmatte, dass er Sozialpädagogin Anna Schreiner ein Lächeln auf das Gesicht zaubert.

Auf den ersten Blick wirkt Philipp wie ein besonders mutiger Fünfjähriger. Dennoch war es ein Stück harte Arbeit, bis er die Leitersprossen so flink und sicher greifen konnte. Probleme mit der Motorik sind der Grund, warum Philipp zweimal im Monat Besuch von Anna Schreiner bekommt. In dieser Zeit spielen die beiden unter Beobachtung von Mutter Daniela Winkler miteinander - so sieht es jedenfalls Philipp. Für Anna Schreiner ist es Arbeit. Sie denkt sich gezielte Übungen aus, um die Motorik ihres Schützlings zu verbessern. Nicht nur das Schreiben fällt ihm oft schwer, auch die Konzentration leidet unter der großen Anstrengung. Tätigkeiten, die für andere Kinder alltäglich sind, bereiten ihm manchmal Schwierigkeiten. Abends dann ist er meist recht müde und geht gegen 19 Uhr ins Bett, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen.

Zu Anna Schreiners Arbeit gehören nicht nur die 60 Minuten, die sie mit Philipp verbringt. Einen Teil ihrer Arbeitszeit opfert sie für die Vor- und Nachbereitung. Eine Stunde blieb ihr einst für die sogenannte indirekte Förderung, 30 Minuten sind es zurzeit. Ab Januar des kommenden Jahres aber soll die noch einmal drastisch um die Hälfte gekürzt werden. "60/15" heißt das Modell, auf das die Frühförderungseinrichtungen im Kreis Segeberg umgestellt werden sollen, nachdem der gültige Vertrag vom Kreis gekündigt wurde.

Künftig soll die indirekte Förderzeit auf 15 Minuten gekürzt werden

Vor der Stunde hat Anna Schreiner bereits die Materialien zusammengesucht und den Parcours aufgebaut, in dem der junge Norderstedter seine Feinmotorik verbessern soll. Anschließend müssen die Burg, der Stofftunnel und alle anderen Spielsachen wieder eingesammelt werden. Dazu kommen Pflichtübungen wie das ausführliche Desinfizieren der Hände sowie Parkplatzsuche und der Fußweg zum Haus der Familie, wenn die Förderstunde, wie sonst üblich, zu Hause bei den Betroffenen stattfindet. Auch die Ergebnisse der Förderstunde müssen in der indirekten Förderzeit dokumentiert werden und mit Kollegen besprochen werden.

"Das alles schaffe ich einfach nicht in 15 Minuten", klagt die Sozialpädagogin. Die Leiterin der Frühförderung in Norderstedt, Liane Simon, geht noch einen Schritt weiter: "Wir werden kaputt gespart", klagt sie an. "Wir arbeiten schon am Limit. Jetzt ist Schluss. Eine 15-Minuten-Taktung ist unmöglich. Sonst können wir eines Tages auch versierte Mütter mit den Kindern spielen lassen, das würde dann auf das Gleiche hinauslaufen."

Die Koordinierungsstelle soziale Hilfen der schleswig-holsteinischen Kreise, kurz "Kosoz", sieht das anders. Sie führt im Auftrag des chronisch klammen Kreises die Verhandlungen, derzeit jedoch herrscht Funkstille zwischen den beiden Parteien. Die Frühförderungen stellen sich quer, klagten ihr Leid auch schon dem Sozialausschuss des Kreistages. Ursula Hegger, die Verhandlungsführerin der "Kosoz", kann die Beschwerden über ihr Angebot an die Frühförderungen nicht nachvollziehen. "Das ist eine Umstellung, und bei Umstellungen gibt es immer ein paar Probleme. Allerdings sind bisher bereits fast 80 Prozent der Frühförderungen in Schleswig-Holstein auf dieses Modell umgestellt worden - ohne größere Probleme."

Die Frühförderungen laufen Sturm, die "Kosoz" bleibt hart

Sie verweist darauf, dass beispielsweise die Fahrten zu den Kindern nicht in den 15 Minuten enthalten seien. Es gebe zusätzlich eine Pauschale, in der die Fahrtzeit und die Rüstzeit bereits enthalten seien. Die allerdings müsse auf ihre Wirtschaftlichkeit hin überprüft werden.

Genau diesem ökonomischen Denken ist Liane Simon überdrüssig: "Es fühlt sich an, als wären wir hier Sklaven, die zum Arbeiten aus dem Keller geholt und anschließend wieder hineingesteckt werden." Schließlich bräuchten sie schon sieben Minuten, um sich die Hände zu desinfizieren und mit all den Sachen zum Auto zu kommen - schneller ginge es nur mit einer Stange zum Runterrutschen wie bei der Feuerwehr. "In weiten Teilen Deutschlands sind die Bedingungen für die Frühförderung weitaus besser", sagt die Hamburgerin, die nicht nur seit 20 Jahren die Frühförderung in Norderstedt leitet, sondern unter anderem auch an der Universität Hamburg doziert.

Daniela Winkler kann den Ärger bei Liane Simon verstehen. "So etwas machen nur Theoretiker, die mit der Praxis nichts zu tun haben", sagt sie, während ihr Sohn gerade seinen neuen Haarschnitt zeigt. Wie Mario Gomez wolle er aussehen, bringt Anna Schreiner in Erfahrung. Ob das Interesse an den Geschichten ihrer Schützlinge auch mit dem neuen System weiterhin so wahrhaftig und aufrichtig sein wird wie zurzeit, kann sie nicht mit Sicherheit sagen. Mit einem seiner Kunstsprünge ein Lächeln auf Anna Schreiners Gesicht zu zaubern, dürfte für Philipp jedoch in Zukunft schwerer werden.