Der Kaltenkirchener Nils Sahnwaldt und seine Kollegen arbeiten in Wacken im Rettungszentrum. Nur mit der Musik kommen sie nicht klar.

Links nervt Mambo-Kurt. Ausdauernd bearbeitet er seine Hammondorgel und singt wirres Zeug. Das Publikum johlt. Weiter hinten dröhnen aus einem gigantischen Zelt mit Sauna-Klima Bass-, Gitarren- und Schlagzeugklänge, ohne dass aus der Ferne ein Zusammenhang zwischen den Lauten der Instrumente zu erkennen wäre. Tausende jubeln. Auf der Hauptbühne tobt sich eine Metal-Lady aus, der Leder-Mann an ihrer Gitarre grunzt dazu. Die Zuschauer sind außer Rand und Band. Der Klang von drei Konzerten und die Begeisterungsschreie aus Zehntausenden mit Pils geölten Kehlen treffen mitten im Camp der Retter zusammen. "Das höre ich schon gar nicht mehr", sagt Nils Sahnwaldt. Vor einem Zelt des Roten Kreuzes sitzt er in Einsatzkleidung auf einem Plastikstuhl in der Sonne und macht das, was er in Wacken immer macht: Er telefoniert oder spricht ins Funkgerät- ruhig und bestimmt. Nerven zu behalten gehört zu seinem Job bei einem Spektakel mit 80 000 Menschen, die gemeinsam feiern und im Schlamm wohnen. Der Kaltenkirchener Sahnwaldt ist verantwortlich für den kompletten Sanitätsdienst beim größten Heavy-Metal-Festival der Welt.

"Bigchef" steht auf der T-Shirt-Rückseite des 41-Jährigen, der im Hauptberuf die Rettungswache des Deutsche Roten Kreuzes in Kaltenkirchen leitet und als Ehrenamtler im DRK-Ortsverein arbeitet. Ein erfahrener Retter mit Übersicht: 500 Sanitäter, Krankenschwestern und Ärzte aus dem gesamten Bundesgebiet sind im Schichtdienst in Wacken im Einsatz. "Ehrenamtlich", betont Sahnwaldt, der zum achten Mal den Job des "Bigchef" übernommen hat und ebenfalls dafür seinen Urlaub opfert, in einer Turnhalle übernachtet und Tag und Nacht erreichbar sein muss.

+++ Auch die Feuerwehr-Kapelle tritt auf +++

Für die Retter steht eine ansehnliche Flotte von Quads und Rettungswagen zur Verfügung. Die Helfer behandeln rund 3200 Festival-Besucher und verbrauchen jedes Jahr Sanitätsmaterial im Wert von 40 000 Euro. Für sechs Tage bläht sich Wacken zu einer Stadt mit 80 000 Einwohnern auf, die auch ein provisorisches Krankenhaus benötigen. Das Zelt mit 40 Betten erstreckt sich über 300 Quadratmeter inklusive Intensivstation und einer "Zentralambulanz für Betrunkene".

Und warum tut sich man sich so einen Job auf dem Acker an? "Wer einmal hier ist, kommt immer wieder", sagt Sahnwaldt. "Das macht einfach Spaß." Wacken Open Air sei ein riesiges Dorf ohne Stress und Ärger. Gehen die Retter auf ein Stadtfest, müssen sie stets Koma-Säufer und Opfer von Prügeleien behandeln und laufen selbst Gefahr, attackiert zu werden - nicht in Wacken. "Wacken ist friedlich und sicher." Sind die Helfer mit ihren Fahrzeugen unterwegs, reicht das Blaulicht, um Platz zu schaffen. "Das Horn brauchen wir nicht." Sie behandeln Bauchschmerzen, Kreislaufschwächen und verknackste Knie, aber keine gebrochenen Nasen oder ausgeschlagene Zähne.

"Nur die Musik", sinniert Sahnwaldt, "das geht manchmal gar nicht." Nebenan lässt die Hardrock-Combo Saxon die Geest zittern. Sahnwaldt: "James Blunt oder Lionel Richie sind abends ein herrlicher Ausgleich." Wer sich im Retter-Camp unterhält, muss die Stimme erheben. Vor den Bühnen geht ohne Knopf im Ohr gar nichts.

"Ich hole mal den Arzt", sagt die Krankenschwester

Nico hat es erwischt. Gestützt von einem Sanitäter hüpft er auf einem Bein ins Behandlungszelt. Auftreten kann er nicht mehr - ab auf die Liege. 17 Jahre ist der Brandenburger alt, spielt in der Handball-Oberliga und in der Landesauswahl. Seinen letzten Bänderriss hat Nico vor zwei Wochen auskuriert. Jetzt wollte er nach ein paar Bieren über einen Graben springen. Krankenschwester Herdis Hirsch nimmt die Daten auf.

32 Grad herrschen im Zelt, am Eingang stehen die Menschen Schlange. "Ich hole mal den Arzt", sagt Herdis Hirsch. Der Doc ist schnell da, untersucht den Fuß und hört sich Nicos Geschichte an. Schnell steht die Entscheidung fest: "Du musst ins Krankenhaus." Nico weiß, dass damit sein Wacken-Rausch in diesem Jahr fürs Erste vorbei ist und fürchtet, dass er außerdem seine Handball-Karriere vergessen kann. Die Aussichten schmerzen noch mehr als das Bein, er weint. Kurz darauf liegt Nico im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus Itzehoe.

Als Nils Bade den Helm abnimmt, läuft ihm der Schweiß auf das schneeweiße T-Shirt - Einsatz beendet. Der 37-jährige Rettungssanitäter vom DRK-Ortsverband Kaltenkirchen ist mit einem Quad auf dem Gelände unterwegs. Bade sitzt am Lenker, hinter ihm nimmt der Notarzt Platz. Das Rettungsteam mit dem Funkrufnamen "82/1" wird gerufen, wenn es auf dem Veranstaltungsgelände oder den riesigen Campingplätzen ernst wird: Wenn Menschen in Lebensgefahr schweben. In Wacken ist die Not glücklicherweise selten so groß.

Die Nächte in der Turnhalle gehören zum "Wacken-Spirit"

Das Festival macht ihm nicht nur einen "Höllenspaß", im Rettungszentrum hat Bade auch die Liebe seines Lebens gefunden: die Krankenschwester Bianca. Vor fünf Jahre sahen sie und Nils sich zum ersten Mal, vor vier Jahren stellte er in Wacken die Frage aller Fragen, vor drei Jahren kam Sohn Maxim zur Welt. "Wacken ist fester Bestandteil des Jahres", sagt Bianca. Die Nächte mit anderen Helfern in einer Turnhalle zu verbringen, gehört für die Bades zum "Wacken-Spirit". Auch 2013? "Wenn Sie mich am Sonntag fragen, wenn alles vorbei ist, antworte ich mit Nein", sagt Nils Bade. "Aber danach überlege ich mir das noch einmal."