Die Freie Waldorfschule Kaltenkirchen bietet alternatives Lehrmodell, das klassische Fächer um Handwerk und musische Schwerpunkte erweitert.

Es wird gehämmert, geschliffen, gebohrt und gesägt. Es qualmt, es staubt, die Funken fliegen nur so. Es ist ein ganz normaler Nachmittag an der Freien Waldorfschule in Kaltenkirchen. Wenn der Handwerksunterricht ansteht, bedeutet das eben im positiven Sinne Drecksarbeit für die Schülerinnen und Schüler.

Abstrakt anmutende Holzskulpturen reihen sich nach ihrer Vollendung dann neben majestätischen Büsten. Dass hier in einer besonderen Umgebung gelehrt und gelernt wird, eröffnet sich auch bei einer Tour über das weitläufige Gelände an der Oersdorfer Straße. Die Gebäude sind geometrisch aufgebrochen, es gibt schräge Dächer, verwinkelte Gänge, warme Farben wie Orange und Rosa, kein kaltes Grau - dafür aber an den Außenwänden viele Holzverkleidungen.

Franziska Worm und Lennart Grube sind mit der Schule gewachsen. Die beiden 18-Jährigen besuchten schon einen Waldorfkindergarten, bevor sie seit ihrer Aufnahme in die 1. Klasse bis heute im 12. Jahrgang ein Teil der Gemeinschaft sind. Von einer Gemeinschaft zu sprechen, scheint angemessen, denn im Optimalfall bleiben die Schülerinnen und Schüler vom ersten Tag bis zum Abschluss zusammen. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man immer wieder die Klasse wechseln muss", sagt Franziska Worm. Lennart Grube teilt dieses Gefühl: "Wir sind immer mit denselben Leuten zusammen. So entsteht meiner Meinung nach ein viel vertrauteres Verhältnis zu den Mitschülern."

Es gibt kein Sitzenbleiben und auch keine Notenzeugnisse

Dies wird bewusst gefördert. So gibt es kein Sitzenbleiben und keine Notenzeugnisse - an die Stelle einer Punkteskala tritt eine ausführliche schriftliche Bewertung seitens der Lehrer. Ausnahmen sind die staatlichen Abschlüsse, doch unter dem Strich gilt das Credo, dass niemand zurückgelassen werden darf im Klassenverband oder gar mangels bestandener Klausuren die Schule verlassen muss. Erst in der Oberstufe wird in den Fremdsprachen Englisch und Französisch - diese werden vom Tag der Einschulung an unterrichtet - sowie in Mathematik nach Leistung getrennt unterrichtet.

Inhaltlich ist eine Balance gegeben zwischen den "klassischen" Fächern und musischen sowie handwerklichen Schwerpunkten. Es wird Theater gespielt wie etwa das Stück "My Aphrodite" von Woody Allen. Die charakteristische Tanzform der Eurythmie ist ein elementarer Bestandteil. Dazu kommen Metallbearbeitung, Kupfertreiben, Korbflechten, Bildhauerei oder Schmieden. "Das ist körperliche Anstrengung mit einem künstlerischen Erlebnis, das der eigenen Neigung entspricht. Die Kinder können aus dem Angebot eine Anzahl wählen und arbeiten dann relativ frei", erklärt Jens Wittkugel, der dem Elternvorstand angehört. Oft bleiben die Schüler bis in den späten Nachmittag in der Schule, um ihre jeweiligen Arbeiten fertigzustellen. "Da entwickelt man eben einen großen Ehrgeiz", betont Franziska Worm.

Schüler machen mehrere Praktika, unter anderem auf einem Bauernhof

Auch die mehrwöchigen Praktika, die ab der 9. Klasse absolviert werden, sind "Highlights", wie die Schülerin mit Freude erzählt. "Ich habe ein Sozialpraktikum in der Neurochirurgie gemacht, da war viel los. Ich hatte auch ein Praktikum bei einer Hutmacherin und war in Frankreich auf einem Bauernhof. Das ist wirklich sehr anders als die Schule."

Lennart Grube hat vergleichbare Erfahrungen gesammelt. "Ich habe vier Wochen auf einem Bauernhof gelebt. Das war unglaublich, die meisten wissen gar nicht, was da abgeht. Das hat Spaß gemacht!"

Eltern wie Susanne Paulsen, die ebenfalls dem Vorstand angehört, sehen sich angesichts derartig guter Resonanz bestätigt. "Ich spüre als Mutter die Entwicklungsanreize, die von diesen Unterrichtsformen ausgehen, zum Beispiel dem Landbaupraktikum in der neunten Klasse. Auf dem Hof war meine Tochter unersetzlich, das verändert Kinder und schafft den Unterbau dafür, dass sie wieder lernen mögen. Meine Kinder entwickeln unbefangen sehr viel Eigeninitiative."

Das Kennenlernen möglicher späterer Karrierewege steht bei den Praktika also nicht im Vordergrund. Vielmehr sollen die Schülerinnen und Schüler ein Bewusstsein für Problemlösungen entwickeln.

Mit der Waldorf-Card wird die Arbeit der Schule finanziell gefördert

Bernd Fischer, Oberstufenlehrer für Biologie und Geografie und Mitglied der pädagogischen Schulleitung, sieht in diesem Bereich Nachholbedarf. "Mir fällt auf, dass viele Kinder intellektuell schon sehr weit sind. Sie kommen mit Informationen in Berührung, die nicht kindgerecht sind. Kindliche Verhaltensweise werden wenig eingeübt, weil andere Bereiche stark hineindrängen." Er liefert ein simples Beispiel: "Beim Backen lernen Kinder schon ein Zahlenverständnis. Etwa, wie viele Äpfel ich für einen Kuchen benötige. Das wird oft übersprungen, und dadurch bilden sich bestimmte Fähigkeiten nicht heraus."

Damit die verschiedenen Unterrichtsstränge in Einklang sind und darüber hinaus der Charakter des "Freien" erhalten bleibt, hat die Waldorfschule eine individuelle Organisationsstruktur. Zwar wird der Haushalt zu 80 Prozent vom Land Schleswig-Holstein finanziert; für die übrigen Mittel müssen die Eltern als Schulträger jedoch selbst aufkommen. Eine Pauschalabgabe gibt es nicht - vielmehr wird ein Solidarprinzip angewendet. Dieses besagt, dass die Beiträge, die die Eltern bezahlen, gestaffelt werden entsprechend der jeweiligen finanziellen Möglichkeiten.

"Daher sind wir auch angewiesen, andere Möglichkeiten zu finden", sagt Jens Wittkugel. Die Einführung der Waldorf-Card ist eine gelungene Idee in dieser Hinsicht. Aktuell gibt es 38 Partner-Unternehmen in der Region. Zeigt ein Kunde beim Einkauf die Karte vor, wird ein bestimmter Teil der bezahlten Summe automatisch als Spende für die Waldorfschule verbucht.

Die Eltern entscheiden mit, welche Lehrer eingestellt werden

Anders als an rein staatlichen Bildungsanstalten haben die Eltern sogar ein Mitspracherecht bei der Aussuche der Lehrkräfte. Aus dem Kreis dieser wird die dreiköpfige pädagogische Leitung gebildet, die sich konzeptionellen Fragen der Unterrichtsgestaltung widmet. "Ohne dieses intaktes Netz würde die Schule nicht bestehen", betont Bernd Fischer. "Die Eltern wollen diese Schule, daher muss es auch eine gemeinsame soziale Basis geben. Es ist die Lebensgrundlage, und sie ist wesentlich intensiver als vielleicht an anderen Schulen."

Die dritte Säule ist die Geschäftsführung mit Otto Ohmsen und Heike Wohler. Ihr Aufgabenbereich umfasst wirtschaftliche und rechtliche Belange. Als Rektor sieht sich Ohmsen aber keinesfalls. "Wir trennen das. Ein Rektor ist Vertreter des Ministeriums und des Schulamtes. Ich bin von den Eltern angestellt und nicht zuständig für pädagogische Inhalte."

Trotz des alternativen Lehrmodells legen die Waldorfschüler reguläre staatliche Abschlüsse ab - in der zehnten Klasse die Hauptschulprüfung und zwei Jahre darauf die Realschulprüfung. Herzstück ist indes der obligatorische Waldorfabschluss, bestehend aus Theater, Eurythmie, Musik, einem Kunstreiseprojekt in Italien und einer Jahresarbeit inklusive Präsentation vor Publikum.

Das Abitur ist optional - doch immerhin 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler verlassen die Waldorfschule mit der Hochschulreife (Realschule: 45 Prozent, Hauptschule: 15 Prozent).

Franziska Worm und Lennart Grube wollen 2013 ihr Abitur machen. Was danach kommt, wissen sie wie so viele andere Schüler, ganz gleich ob vom Gymnasium oder der Waldorfschule, noch nicht. Aber sie arbeiten daran, wie Lennart erzählt. "Wir sind dabei, ein Netzwerk zwischen Alumni und der Schule aufzubauen. So können Ehemalige gucken, was los ist. Und wir Schüler können Ehemalige kontaktieren und fragen, welche Wege man einschlagen könnte."

Auch der Herbstmarkt am Sonnabend, 12. November, von 12 bis 17 Uhr ist ein beliebter Termin, an dem viele Schüler der ersten Stunde vorbeischauen. Sie verkörpern ein Waldorf-Gefühl von Verbundenheit und Dankbarkeit, das ein ganzes Leben anhält.