Erna Kretschmann gehörte zu den ersten Mietern der Genossenschaftshäuser am Heimpfad in Norderstedt - auf 40 Quadratmetern.

Norderstedt. Die Häkeldecken sind akkurat ausgerichtet, keine Spitze ist verknüllt, alle Zacken sind sauber ausgebügelt. Die Sofakissen stehen wie die sprichwörtliche Eins, die Gardinen sind strahlend weiß und die Fensterscheiben blitzeblank geputzt. Erna Kretschmann lebt in einer jener Puppenstuben-Wohnungen, die immer blitzblank gewienert sind. Ihr ganzer Stolz ist ihr Schleiflack-Schlafzimmer, ein intaktes Original mit Frisierkommode aus den 50er-Jahren.

Seit 60 Jahren wohnt die 85-Jährige in einem Mehrfamilien-Haus am Heimpfad in Norderstedt, seit 60 Jahren auf 40 Quadratmetern in derselben Wohnung, zuerst mit Ehemann Erich und Tochter Renate, jetzt allein. Nachbarn zogen aus und ein, Erna Kretschmann blieb.

"Als wir einzogen, war unsere Tochter zwei Jahre alt, jetzt ist sie 63 Jahre, so schnell vergeht die Zeit", sagt sie mit Wehmut in der Stimme. Erinnerungen kommen auf, Erinnerungen an Ehemann Erich, und eine Träne stiehlt sich in ihre Augen. Schnell verschwindet die alte Dame, als Anne-Kathrin Ihrens und Thomas Burmester von der Norderstedter Baugenossenschaft Adlershorst ihr einen mit Leckereien gefüllten Präsentkorb und einen Blumenstrauß für ihre 60-jährige Treue überreichen, schließlich ist sie Adlershorsts langjährigste Mieterin.

Fit ist die 85-Jährige. "Man muss in Bewegung bleiben, immer was tun, immer was arbeiten", ist ihr simples Geheimnis. Sie fährt mit dem Fahrrad zum Einkaufen, sorgt dafür, dass der Garten neben dem Hauseingang immer schick und schier ist. Enten, Tauben, Pilze, bunte Windräder und ein Storch tummeln sich in den mit bunten Blumen bepflanzten Beeten um den Rasen herum - eine kleine Oase vorm großen Mietshaus. Die Blumen zieht sie selbst. Erna Kretschmann ist stolz auf den Vorgarten: "Der hält mich fit."

Doch auch in diese Idylle von Garten und Puppenstuben-Wohnung hat das Leben seine Spuren gegraben. "In den ersten Jahren war es hier am schönsten, wir hatten eine sehr gute Hausgemeinschaft", sagt Erna Kretschmann. Jeder habe für jeden eingestanden, die Treppe war immer sauber geputzt, und die Wäschezeiten auf dem Trockenboden und im Waschkeller wurden genau eingehalten. Damit sie nicht mehr auf den Dachboden steigen muss, hat ihre Tochter ihr einen Wäschetrockner geschenkt. Heute wohnen fünf Familien in dem Haus, meistens Mütter mit ihren Kindern.

Sie kam mit ihrer Mutter und Geschwistern aus der DDR "rüber", damals, als die Grenze noch keine richtige Grenze war. Aus Ostpreußen wurden sie von den Polen hinausgeworfen und kamen über Mecklenburg nach Garstedt. Nach einigen Irrwegen fand sie ihren Ehemann wieder: "Er war Kraftfahrer beim Engländer. Er hat mir ein Zimmer am Sood hier in Garstedt gemietet", erinnert sich die alte Dame. Dann hörte sie vom Neubau der Genossenschaft, schrieb sich in die Mieterliste ein. "Deshalb ist die Wohnung immer noch auf meinen Namen gemietet", sagt Erna Kretschmann.

Aus ihren Fenstern blickte sie auf grüne Wiesen mit Kühen, und auf dem großen Sandhaufen vor der Tür, der nach dem Bauen des Hauses entstand, spielten die Kinder.

Erna Kretschmann hat immer gearbeitet, beispielsweise in einer Papierfabrik. Ihre Mutter wohnte gegenüber im Haus und betreute ihre Tochter, Ehemann Erich war im Textilhandel selbstständig.

"Wir haben hier viele Feste mit der Familie und Freunden gefeiert, beispielsweise die Konfirmation unserer Tochter und die Hochzeiten meiner Schwestern", erinnert sich die 85-Jährige und zieht eine Spitzendecke glatt. (abendblatt.de)