Die Norderstedterin Nina Stuhlmüller arbeitete drei Monate als Ausbilderin in Afghanistan. Im Interview spricht sie über ihre Motivation.

Norderstedt. Hamburger Abendblatt: Frau Stuhlmüller, wie lief die Ausbildung der afghanischen Polizisten genau ab?

Nina Stuhlmüller: Es gab einen praktischen und einen theoretischen Teil. In der Theorie haben wir versucht, den Schülern die Menschenrechte näherzubringen. Das war nicht einfach und in sechs Wochen auch nicht möglich. Und dann haben wir ihnen noch das "Afghan Police Law", das sich stark an deutschem Recht orientiert, beigebracht, damit sie für ihr Handeln eine Grundlage haben und wissen, was sie dürfen und was nicht.

Zuvor haben sie eher frei gehandelt. Wenn jemand etwas nicht wollte, haben sie ihm die Maschinenpistole unter die Nase gehalten, und dann hat's geklappt. Wir haben versucht, ihnen beizubringen, dass es auch andere Wege gibt.

In welchen Teams und mit welchen Klassen haben Sie gearbeitet?

Stuhlmüller: Ich habe zwei Gruppen betreut, sogenannte Circles. In der ersten Gruppe hatten wir pro Klasse 32 Auszubildende. Eigentlich war es immer so gedacht, dass zwei deutsche Trainer dabei waren und ein afghanischer Trainer. Je nachdem, ob jemand im Urlaub gewesen ist oder nicht, waren wir manchmal auch nur zu zweit. Im zweiten Circle hatten wir dann 20 Schüler.

Was wurde im praktischen Teil der Ausbildung vermittelt?

Stuhlmüller: Wir haben den Auszuildenden die Basics vermittelt. Zum einen Personendurchsuchungen, wo zwei, drei verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt wurden, wie man die Person im Liegen, im Stehen, an der Wand lehnend, im Freien und im Knien durchsucht. Auch Hausdurchsuchungen wurden trainiert, insbesondere die Annäherung und das Verhalten im Haus. Autokontrollen, die "Vehikel-Checkpoints", waren ebenfalls Thema.

Grundtenor der Ausbildung war stets: Redet mit den Menschen und erklärt eure Maßnahmen. Häufig werden dort erst die Maßnahmen durchgeführt und hinterher eventuell erklärt. Problematisch ist in diesem Zusammenhand natürlich auch, dass viele Polizisten die Gesetze nicht kennen und nicht schreiben und lesen können. Von der ersten Gruppe, bestehend aus 32 Auszubildenden, konnten zwei lesen und schreiben. Schon grundlegende Dinge, wie Personalien notieren, werden da zum Hindernis. Wenn allerdings eh Schmiergeld im Spiel ist, wird wohl oftmals gar nichts notiert.

Haben Sie die Auszubildenden auch außerhalb des Stützpunktes in ihrem späteren Einsatzgebiet unterrichtet?

Stuhlmüller: Nein, das durften wir leider nicht. Es herrschte in Kundus absolutes Bewegungsverbot. Wir durften nur von unserem Lager, dem PRT, also dem Provincial Reconstruction Team, zu unserem PTC, dem Police Training Centrum, gehen und mit den Auszubildenden überhaupt nicht raus. Das war schade, selbst ich als Trainerin kannte so einen Checkpoint nicht aus der Nähe. Das Training fand lediglich auf dem Stützpunkt statt.

Welche Afghanen können sich für die Arbeit als Polizist überhaupt bewerben?

Stuhlmüller: Es gibt mehrere Rekrutierungsbüros, zu denen die Menschen auch massenhaft hingeströmt sind. Die genauen Kriterien kannten wir nicht. Es hieß aber, dass fast jeder genommen wird, weil schlicht unheimlich viele Polizisten gebraucht werden.

Hat Sie die große Anzahl an Bewerbern verwundert?

Stuhlmüller: Einerseits fand ich das schon überraschend, weil es ja doch ein gefährliches Land ist. Ich würde da im Leben nicht Polizist sein wollen. Aber die meisten haben halt keinen Job. Das ist die einzige Möglichkeit, ihre Familien durchzukriegen. Natürlich sagten auch viele, sie wollen für ihr Vaterland kämpfen, damit ihre Kinder es einmal besser haben werden. Der Nachsatz war aber stets, dass sie die Kohle bräuchten, sonst würden sie verhungern.

Was verdient ein Polizist in Afghanistan?

Stuhlmüller:

Das Monatsgehalt liegt bei 280 Dollar. Das ist wohl schon nicht schlecht. Dafür, dass die Polizisten aber so großen Gefahren ausgesetzt sind, finde ich es sehr wenig. Außerdem ist es auch nicht so, dass die ihr Geld regelmäßig bekommen haben. Viele Auszubildende haben uns berichtet, dass das Geld nicht bei ihnen ankommen würde.

Was war Ihr Gefühl, als Sie am Einsatzort ankamen?

Stuhlmüller: Als ich in Kabul landete, dachte ich, dass ich hier nie im Leben arbeiten wollen würde. Das war alles dreckig, matschig und sah völlig arm aus. Auch in Kundus habe ich mich gefragt, ob ich hier wirklich drei Monate arbeiten will, weil alles echt trostlos wirkte. Auch das Camp sah zunächst aus wie ein kleines Gefängnis. Es gab keine wirklichen Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten. Wir hatten zwar einen Fitnessraum - mehr Möglichkeiten boten sich aber kaum.

Was war Ihre persönliche Motivation für den Einsatz?

Stuhlmüller:

Ursprünglich war der Ansatz, andere Kulturen und Länder kennenlernen zu wollen. Dann hieß es aber, dass für den ersten Einsatz nur Afghanistan in Frage kommen würde, wo die Bewegungsfreiheit ja relativ stark eingeschränkt ist. Ich konnte trotzdem andere Menschen kennenlernen, andere Kulturen ja auf gewisse Art und Weise zumindest erleben.

Gab es für Sie persönlich bedrohliche Situationen?

Stuhlmüller: Nicht wirklich. Anfangs hat mich irritiert, dass wir beim abendlichen Zusammensein am Lagerfeuer oder beim gemeinsamen Filmabend immer wieder Gewehrfeuer gehört haben. Das waren meistens Checkpoints, die angegriffen wurden, wobei ich nicht genau wusste, von wem. Dann wurde ich von anderen schnell beruhigt und habe mich auch ziemlich schnell daran gewöhnt. Trotzdem bleibt die Situation immer präsent. Wir hatten auch die Haubitze bei uns im Lager, die ab und zu geschossen hat. Eine konkrete Gefahr bestand jedoch auch dann nicht.

Wovor ich ein bisschen Angst hatte, war ein Beschuss unseres Lagers mit Raketen. Die Kollegen, die letztes Jahr da waren, haben berichtet, dass zwei oder drei Raketen auf das Lager abgeschossen wurden. Wenn die erste Rakete runterkommt, so hatte ich mir vorgenommen, bin ich weg. Dann packe ich meine Sachen und fliege nach Hause. Von Anfang an habe ich gesagt, dass ich in Kabul nicht arbeiten würde, weil man dort, um zum Trainingsgelände zu kommen, durch die Stadt fahren muss. Da bin ich zu feige für. In Kabul geht doch ab und zu einmal eine Bombe hoch - das muss ich nicht haben, man hängt ja doch so ein bisschen an seinem Leben. Auch über meinen Einsatzort in Kundus war ich nicht glücklich. Direkt vor meiner Abreise hatte es dort noch Anschläge gegeben.

Welche Vorraussetzungen mussten Sie erfüllen, um in Afghanistan ausbilden zu können?

Stuhlmüller: Es gab ein Auswahlverfahren. Das bestand aus einem Englisch- sowie einem Sporttest und einem psychologischen Gespräch. Anschließend wurden wir in einem ausschließlich englischsprachigen Grundseminar in Lübeck über alle derzeit laufenden Missionen informiert. Danach haben wir einen speziellen Vorbereitungskurs für Afghanistan absolviert. Dort wurden die verschiedenen Standorte der Truppen vorgestellt. Ein afghanischer Mitbürger hat uns etwas über die Tradition und Kultur berichtet. Das Schießen mit dem Maschinengewehr und auch für solche Einsätze typische Situationen haben wir noch einmal geübt.

In Afghanistan sind weibliche Polizisten ja nicht gerade üblich. Gab es Ihnen als Frau gegenüber Vorbehalte?

Stuhlmüller: Ich trug kurze Ärmel, und ich bin es gewohnt, Menschen während einer Unterhaltung in die Augen zu schauen. Das kennt man dort so nicht. Meine Auszubildenden wussten anfänglich nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollten; und mir ging es genauso. Die ersten zwei Wochen während der Theorie waren ein Katz-und-Maus-Spiel. Als es dann ans Schießen ging und sie sahen, dass ich auch was konnte, war das Eis gebrochen. Meine Auszubildenden kamen mit ihren Alltagssorgen zu mir und haben mich als Trainer voll akzeptiert. Es war total egal, dass ich eine Frau bin. Das war eine schöne Erfahrung. Ich weiß natürlich nicht, was sie in ihrer Unterkunft gesprochen haben.

War das für Sie im Vorfeld ein Thema, hatten sie Bedenken?

Stuhlmüller:

Ich habe mir keinen großen Kopf gemacht, mir aber schon überlegt, was mache ich, wenn meine Schüler ernsthafte Probleme mit mir als Frau haben. Beim Sport beispielsweise oder auch bei der Selbstverteidigung habe ich natürlich nicht mitgemacht. Ich konnte die Übungen zwar vormachen, sie haben sich jedoch nicht getraut, mich anzugreifen.

Mit welchen Sorgen kamen die Auszubildenden zu Ihnen?

Stuhlmüller: Da ging es dann darum, ob kleine Kratzer noch verbunden werden könnten, oder sie nicht einen Tag früher nach Hause zur kranken Tochter gehen könnten. Ich erinnere einen Fall, bei dem ein Auszubildender seit einer Bombenexplosion Probleme mit dem Gedächtnis hatte und gern im Bundeswehr-Krankenhaus versorgt worden wäre.

Gibt es auch afghanische Frauen, die als Polizistin arbeiten?

Stuhlmüller: Es gibt weibliche Polizisten, die in Kundus ausgebildet wurden. Das sind jedoch Einzelfälle. Getroffen habe ich keine.

Hatten Sie Tote oder Verletzte innerhalb Ihrer Gruppe zu beklagen? Wissen Sie, was aus Ihren ehemaligen Auszubildenden geworden ist?

Stuhlmüller:

Ich weiß von dem Bruder eines Auszubildenden, einem Schafhirten, dass er auf eine Miene getreten war. Der konnte dann bei uns behandelt werden. Selber kenne ich keinen, der verletzt wurde, und zu den Absolventen habe ich auch keinen Kontakt mehr. Im Vorfeld wurde uns gesagt, dass ein Drittel der Auszubildenden das erste Jahr im Dienst nicht überleben würde. Ein weiteres Drittel würde zu den Taliban überlaufen und die verbleibenden werden weiterhin Polizist sein. Mir sind meine Jungs ja auch ans Herz gewachsen. Zu wissen, dass jeder dritte Schüler das erste Jahr wahrscheinlich nicht überleben wird, ist schon sehr traurig.

Es gab in der jüngeren Vergangenheit auch wieder Anschläge in Lagern der Bundeswehr. Konnten Sie dem afghanischen Sicherheitspersonal vertrauen?

Stuhlmüller: Wir mussten ihnen ja vertrauen. Es gab bei uns afghanisches Wachpersonal, das den ganzen Tag mit einer Kalaschnikow im Arm herumgelaufen ist. Da war das unumgänglich, aber teilweise ein ungutes Gefühl. Schließlich hatten wir nur unsere 15 Schuss dabei und hätten gar nichts ausrichten können. Die afghanische Wirtschaft muss aufgebaut werden, da gibt es halt auch afghanisches Wachpersonal. Bis jetzt ist ja auch immer alles gut gegangen.

Wie wohnt man in einem solchen Lager?

Stuhlmüller: Unser Lager war sehr neu, die Container-Unterkünfte der Polizei waren gerade fertiggestellt worden und recht gemütlich. Im Team, wir waren 16 Leute, herrschte eine familiäre Atmosphäre. Essen gibt es in einer großen Kantine, abends hat man sich zum Kickern getroffen oder einen Film geguckt. Ein bisschen fühlt es sich an wie auf einer Kinderfreizeit. Wir haben auch viel über zu Hause gesprochen und wie die eigene Familie mit der Situation klar kommt.

Wie waren die Reaktionen Ihrer Freunde und Ihrer Familie auf ihre neue "Arbeitsstelle"?

Stuhlmüller: Glücklich war keiner mit meiner Entscheidung. Meine Eltern haben sich generell verständnisvoll gezeigt, nur das Ziel Afghanistan konnten sie nicht nachvollziehen. Letztendlich hat auch mein Freundeskreis aber gesagt, wenn du das wirklich machen willst, ist das schon in Ordnung.

In Umfragen in der deutschen Bevölkerung ist der Einsatz umstritten. Hat Ihnen der Rückhalt aus dem Bekanntenkreis oder aus der Bevölkerung gefehlt?

Stuhlmüller: Nein, für mich stand die Polizeiarbeit im Vordergrund. Ich finde, wenn es dort funktionieren soll, muss die Bevölkerung der Polizei trauen. Für mich war es sehr wichtig, einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass die Bevölkerung zukünftig mit der Polizei zusammenarbeitet. An kriegerischen Maßnahmen habe ich nicht teilgenommen, vielmehr hatte meine Aufgabe etwas mit zivilem Aufbau zu tun.

Lässt sich die afghanische Polizeiarbeit mit europäischen Maßstäben messen?

Stuhlmüller: Auf keinen Fall. In Afghanistan herrschte 25 Jahre Bürgerkrieg, die Bevölkerung akzeptiert die Polizei nur in seltenen Fällen. In einer sechswöchigen Ausbildung grundlegende Dinge zu verändern, ist sehr schwierig. Man kann nur hoffen, dass sich einige etwas gemerkt haben und dass sich rumspricht, dass die Polizei auch nett sein kann.

Inwieweit, glauben Sie, war Ihre Mission erfolgreich?

Stuhlmüller: Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass zumindest die Sicherheitsmaßstäbe eingehalten werden, dass die ehemaligen Auszubildenden auf sich aufpassen und nicht am Checkpoint schlafen. Ich habe Bilder gesehen, die zeigen, dass Polizisten erschossen worden sind, weil sie zu viel gefeiert und getrunken haben und eingeschlafen sind. Bis europäische Standards erreicht werden, wird es wohl noch eine Ewigkeit dauern. Ich hab meinen Schülern jetzt beigebracht, wie man es machen kann. Wenn sich auch nur einer daran hält, wäre das für mich schon ein Erfolg.

Gab es Momente, in denen Sie ganz besonders gemerkt haben, dass es sich um eine gänzlich andere Kultur handelt?

Stuhlmüller: Ja, durchaus. Die hygienischen Standards beispielsweise sind dort ganz andere. Eine Dusche mit fließendem Wasser kennen dort die wenigsten. Verwunderlich hingegen war, dass einige Schüler gleich zwei Handys besaßen. Teilweise hat man recht westliche Eindrücke gewonnen und teilweise fühlte man sich wie im Mittelalter.

Was war das Erlebnis, das Ihnen am besten in Erinnerung geblieben ist?

Stuhlmüller: Mein schönster Moment war die Zertifizierung. Als die Polizisten die Ausbildung bestanden hatten, hat jeder von ihnen ein entsprechendes Zertifikat bekommen. Ihre leuchtenden Augen zu sehen, war ein Highlight. Sie haben unzählige Male meine Familie grüßen lassen, mir eine gute Heimreise gewünscht und auch von sich aus die Hand geschüttelt, womit sie ja auch vorher sehr vorsichtig gewesen sind.

Worauf haben Sie sich denn nach ihrer Rückkehr, als Sie in Hamburg aus dem Flieger gestiegen, am meisten gefreut?

Stuhlmüller: Einmal ausgiebig einzukaufen, das hat schon gefehlt. In Kundus gab es ja nur einen kleinen Laden, den "Verticker", wo man das Nötigste kaufen konnte.

Würden Sie die Entscheidung, als Polizei-Ausbilderin nach Afghanistan zu gehen, noch einmal genauso treffen?

Stuhlmüller: Ja. Ich könnte mir das schon vorstellen, weil es mir sehr viel Spaß gemacht habe und ich die Ziele immer noch für sinnvoll erachte. (abendblatt.de)