Zahlen der bundesweiten Studie gelten auch für Segeberg. Pädagogen und Polizei raten Eltern zu mehr Sensibilität

Kreis Segeberg. Es sind erschreckende Nachrichten, die jetzt an die Öffentlichkeit kommen: Eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ergab, dass jede zweite deutsche Schule mit Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch konfrontiert ist. Die von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Untersuchungen besagen, dass rund 67 Prozent aller Internate und 82 Prozent aller Kinder- und Jugendheime ebenfalls betroffen sind. Was bedeutet das für Norderstedt und den Kreis Segeberg? Sind Kinder hier ebenfalls oder sogar mehr gefährdet?

"Prinzipiell ja", sagt Nina Vogeley, Mitarbeiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Sozialwerkes Norderstedt. "Wenn man es genau nimmt, ist sogar jede Schule von Verdachtsfällen betroffen". Sexueller Missbrauch sei im Kreis ein allgegenwärtiges Thema, das Schulen und soziale Einrichtungen seit Jahrzehnten in Atem halte. Die Schulrätin des Kreises Segeberg, Marianne Böttcher, weiß um die Gefahren: "Fast in jeder Klasse kommt eine Art des sexuellen Missbrauchs vor". Die vereinzelt an Schulen eingesetzten Schulpsychologen würden bis zu 80 Prozent ihrer Arbeitszeit auf dieses Thema verwenden. Denn: "Kinder und Jugendliche wenden sich mit ihren schlimmen Erlebnissen öfter an anonyme Fachleute als an Lehrer oder Eltern", sagt Elke Pansa vom Kinderschutzbund Bad Segeberg.

In einem Punkt sind sich alle einig: Die Zahlen, die aktuell in der bundesweiten Studie veröffentlicht wurden, sind nichts Neues. Neu ist nur, dass das Bewusstsein über das Thema sexuelle Gewalt zugenommen hat und laut den Experten noch deutlich weiter wachsen muss. Neu ist auch: Es gibt mehr Täter, die im gleichen Alter sind wie ihre Opfer. Es handelt sich also nicht nur um Erwachsene, die sich an Kindern und Jugendlichen vergreifen. Es handelt sich um die "Generation You-Porn" - eine Generation, die mit sexuellen Bildern aufwächst. Und die sexuelle Grenzen kaum erkennen kann. Pansa sagt: "Sexbezogene Bilder spielen in den Medien mittlerweile eine so große Rolle, dass junge Menschen diese teils kaum von der täglichen Realität unterscheiden können." Wer außerdem keine Liebe im Elternhaus erfahrte, keine zwischenmenschliche Bindung kenne, dem falle es zunehmend leichter, sexuelle Grenzen zu überschreiten.

Dabei sei Täter nicht gleich Täter. "Missbrauch reicht von sexuellen körperlichen Andeutungen bis hin zur tatsächlichen Vergewaltigung", so Elke Pansa. Zwar werde vor Gericht nach Schwere des Vergehens unterschieden, "letztendlich sollten im Alltag aber keine Grenzen zwischen mehr oder weniger schlimmen Taten gezogen werden", so Vogeley. Denn: Jeder nicht gewollte sexuelle Akt treffe die Betroffenen schwer. Darunter falle auch das sogenannte Happy-Slapping - dabei werden die Opfer während der Tat mit einem Handy gefilmt, die Bilder werden den Mitschülern aufs Mobil-Telefon geschickt.

Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu schützen? "Eltern müssen sich für dieses unangenehme Thema öffnen", so Carmen Kerger-Ladleif, Diplom-Pädagogin vom Hamburger Verein Dunkelziffer. Erst vor Kurzem haben Mitarbeiter des Vereins unter dem Motto "Mein Körper gehört mir" Eltern, Lehrer und Kinder in Norderstedter Schulen gezielt informiert und aufgezeigt, wie sie erkennen können, ob Kinder Opfer sind. Wichtig sei die Erkenntnis: Jedes Kind kann von sexuellem Missbrauch betroffen sein. Und: Eltern, Freunde und Verwandte sollten die Augen offen halten und darauf achten, ob sich im Verhalten etwas verändert.

"Es gibt keine bestimmten Symptome, die auf sexuellen Missbrauch hindeuten", sagt Elke Pansa. Wenn sich Kinder oder Jungendliche schlagartig verändern, wenn sie sich zurückziehen oder besonders aggressiv werden, sollten Eltern aufmerksam werden und ihr Kinde vorsichtig darauf ansprechen, rät Nina Vogeley. Auch dann, wenn sie das Gefühl haben, ihr Kind könnte der Täter sein. "Generell ist es wichtig, eine Beratungsstelle aufzusuchen - das können auch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft sein. Der richtige Umgang mit Betroffenen ist sehr wichtig", so Elke Pansa. Wer Opfer oder Täter verbal zu grob behandelt, könne die Lage nur noch verschlimmern.

Dennoch seien die Erkenntnisse kein Grund zur Panik. "Solange Lehrer und Eltern zunehmend geschult werden, sind wir jedenfalls zum Teil auf der sicheren Seite", so Schulrätin Böttcher. Dazu bedürfe es aber noch jeder Menge Initiativen. Lehrer sollten sich des Themas annehmen und lernen, wie sie mit Betroffenen richtig umgehen, fordert Elke Pansa. Und es müsse noch mehr Anlaufstellen innerhalb der Schulen geben, speziell geschulte Sozialpädagogen oder psychologische Betreuer.

"Wir müssen unsere Kinder für das Thema sensibilisieren", sagt auch Hans-Jürgen Mader von der Kriminalpolizei Norderstedt. So müssten Kinder lernen, in bestimmten Situationen "Nein" zu sagen. Es seien typische Situationen, die immer wieder besprochen werden sollten: Das schwarze Auto, der angeblich nette Mann darin, der dem Kind etwas zeigen möchte - ein solches Angebot sollten Kinder so früh wie möglich deutlich ablehnen und als Gefahr begreifen. "Vor Pornografie können Eltern ihre Kinder nur eingeschränkt schützen", sagt Mader. Die Zahl der Strafanzeigen habe nicht zugenommen. Allerdings gebe es eine hohe Dunkelziffer, viele Taten würden nicht angezeigt. Mader rät Eltern in jedem Fall, "Ruhe zu bewahren".