Norderstedter Blinde fürchten, dass sie durch die Spar-Pläne der Regierung in die komplette Isolation geraten

Norderstedt. Der zunehmende Verlust des Augenlichts ist auch ein schleichender Abschied vom öffentlichen Leben. Vera Reiners, 85, aus Norderstedt leidet seit 1996 unter der altersbedingten makularen Degeneration (AMD). Für ihr Leben bedeutet die Krankheit, dass der Großteil der sichtbaren Welt hinter einem grau-schwarzen Vorhang verborgen bleibt. Ihr bleibt nur ein schmaler Rand des Sichtfeldes, ein schmaler Rest an sichtbarer Welt.

Aus ihrem kleinen Haus am Friedrichsgaber Weg traut sie sich immer seltener heraus. Und wenn, dann nur für den kurzen Gang um den Block. Für alle weiteren Wege braucht sie Taxis und Menschen, die sie begleiten. Das kostet Geld, das Vera Reiners bald nicht mehr hat. Die Regierung in Kiel muss sparen. Und scheut nicht davor zurück, den Blinden ans Portemonnaie zu gehen.

In Kiel macht Sozialminister Heiner Garg eine einfache Rechnung auf. An Eva Reiners und 4458 weitere Blinde in Schleswig-Holstein wurden 2008 genau 16 852 438,14 Euro an Blindengeld ausgezahlt; 200 Euro pro Monat für die Blinden unter 18 Jahren, 400 Euro für die Erwachsenen ohne Augenlicht. Wenn das Blindengeld ab 2011, wie es jetzt diskutiert wird, um 50 Prozent reduziert wird, dann hat die Landeskasse über 8,4 Millionen Euro jährlich gespart, fast zehn Prozent des anvisierten Einsparvolumens.

Wer mit der Hälfte des Blindengeldes nicht auskomme, der könne sich über die aufstockende Blindenhilfe, der Sozialhilfe für Blinde, das Geld wieder zurückholen, sagt Garg.

"Herr Garg verschweigt dabei aber, dass viele Blinde und Sehbehinderte, besonders die Alten und Alleinstehenden mit Altersblindheit, an den Kriterien für die Sozialhilfe scheitern", sagt Margit Sildatke, die Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Norderstedt. Alleinstehende dürfen nicht mehr als 1118 Euro im Monat haben, und Vermögen über 2600 Euro ist auch ein Ausschlusskriterium.

Wenn über Mann oder Frau des Blinden ein Zweiteinkommen da ist, dann wäre die Rechnung sowieso eine ganz andere. Nämlich die, die Eva Reiners und ihr Mann jeden Monat aufmachen müssen. Die 85-Jährige war Kindergärtnerin und bezieht heute eine kleine Rente. Ihr Mann bekommt als Kriegsversehrter sein Geld auch vom Staat. Die beiden leben in einem kleinen Häuschen, das sie geerbt haben. Und natürlich haben sie etwas Geld auf der hohen Kante. All die Jahre kamen sie gut zurecht. Bis Eva Reiners 1996 zunehmend erblindete.

"Ich kann keine Schuhe mehr zubinden, ich kann mir nicht die Finger- oder Fußnägel schneiden, für jeden Arztbesuch brauche ich ein Taxi", sagt Eva Reiners. Blind zu sein ist teuer. Denn die Hilfe kostet immer Geld. "In den Supermarkt muss mich jemand begleiten. Die packen einem sonst nicht die Sonderangebote, sondern nur die teuren Sachen in den Korb", sagt Reiners. Kochen, so wie früher, das gehe auch nicht. Teure Fertiggerichte sind nicht lecker, aber praktisch.

Für all das bekommen Eva Reiners und andere ganz oder fast Erblindete 400 Euro Blindengeld. Wenn daraus 200 Euro gemacht werden, "dann kann ich gleich auf meinem Sofa sitzen bleiben und gar nicht mehr vor die Tür gehen", sagt Eva Reiners. Für die ausgleichende Sozialhilfe hat Eva Reiners zu viel und für die Teilnahme am Leben zu wenig Geld.

Marion Vierck, 56, die in einer kleinen Wohnung an der Ulzburger Straße lebt, muss als alleinstehende Blinde auf jeden Cent gucken, um über die Runden zu kommen. Mit zwölf Jahren raubte ihr eine Erbkrankheit das Augenlicht. Heute kann sie nur noch Hell und Dunkel unterscheiden. Sie ist Frührentnerin, "weil Blinde es immer schwerer haben, überhaupt noch einen Job zu finden", sagt sie. Lange war sie Telefonistin bei einer Taxi-Zentrale, dann wurde sie ausgemustert.

Einkäufe, Arztbesuch, Saubermachen, Kochen, Post vorlesen - wenn sie für die täglichen Verrichtungen des Alltags keine Hilfe bezahlen kann, wird alles noch viel schwerer für die 56-Jährige. "Vielleicht spare ich zuerst beim Fensterputzen und gehe auch weniger aus der Wohnung", sagt Vierck. Sie fürchtet die völlige Isolation in einer Gesellschaft, die mit Blinden nichts mehr anzufangen weiß. "Wenn ich Sozialhilfe beantrage, muss ich alles offenlegen, meine Ersparnisse, was ich für welche Zwecke ausgebe. Das will ich einfach nicht", sagt Marion Vierck.

Sie war es gewohnt, ihr Leben alleine zu regeln. Zusammen mit ihrem Mann entschied sie, Kinder haben zu wollen. Kein leibliches Kind, sondern ein adoptiertes, aus der Angst heraus, die Erbkrankheit könnte wieder zuschlagen. Sie adoptierten ein Mädchen. Dann starb der Mann von Marion Vierck viel zu früh. Die Blinde schlug sich als Alleinerziehende durchs Leben. Heute hat ihre Tochter selbst zwei Kinder. Für Marion Vierck ist der Gedanke, nun Sozialhilfe beantragen zu müssen, nur schwer zu ertragen.

"Wir Blinde und Sehbehinderte sind ja bereit zu sparen. Aber müssen es denn gleich 50 Prozent des Blindengeldes sein?", sagt Margit Sildatke. Mitte Oktober sind in Kiel über 4000 Blinde- und Sehbehinderte aus ganz Deutschland auf die Straße gegangen. Sildatke, Eva Reiners, Marion Vierck und andere Norderstedter waren dabei. Sie machten klar, dass selbst das verschuldete Berlin mit 475,70 Euro Blindengeld weit mehr als Schleswig-Holstein bezahlt und dass nach der Kürzung um 200 Euro Schleswig-Holstein die "rote Laterne" in Deutschland übernehmen würde. SPD-Spitzenkandidat Ralf Stegner hat den Blinden versprochen, dass die Kürzung des Blindengeldes als erstes kassiert werde, wenn er das Ruder im Land übernehme.

Momentan scheint der Genosse Stegner die einzige Hoffnung der Blinden und Sehbehinderten in Schleswig-Holstein zu sein.