Margrit Herbst warnte vor BSE und wurde gefeuert. NZ-Redakteur Wolfgang Klietz hat die 70-Jährige besucht

Die letzten Ordner liegen zwischen Sofa und Wohnzimmerwand. Margrit Herbst muss unter der Dachschräge tief in die Knie gehen, um die Unterlagen herauszusuchen. "Die meisten Sachen habe ich weggeschmissen", sagt die 70 Jahre alte Tierärztin mit der Kurzhaarfrisur. Die "Sachen" - das sind Dokumente, die von einem endlosen Kampf um Wahrheit und Anerkennung, von Vertuschung und Mut berichten. Das sind Presseberichte voller Warnungen vor einer Krankheit, die Anfang der 90er-Jahre angeblich nur in Großbritannien grassierte: Rinderwahnsinn, bekannt als BSE. Das sind Prozessakten, wissenschaftliche Dokumente, Ehrungen. Margrit Herbst hat vor BSE gewarnt und ist deshalb entlassen worden. Den Kampf um Ehre und Wahrhaftigkeit hat sie gewonnen. Auf ihre Rehabilitierung durch den Staat, für den sie gearbeitet hat, wartet sie immer noch.

Bis zu 60 Rinder in einer Stunde - vor 20 Jahren schlug der Tod in der Norddeutschen Fleischzentrale in Bad Bramstedt mit hohem Tempo zu. Manchmal blieb Margit Herbst nur eine Minute pro Tier, als sie Anfang der 90er-Jahre im Auftrag des Kreises Segeberg an der Pforte zu den Viehboxen des Schlachthofes stand. Die promovierte Veterinärmedizinerin musste schnell entscheiden, in welche Kategorie sie die Rinder einordnete: gesund, verdächtig oder krank. Ein gesundes Tier starb Minuten später. Ein krankes Tier durfte die Fleischhygienetierärztin - so lautete die offizielle Bezeichnung - beschlagnahmen. Ein ermüdender Job mit Herausforderungen wie im Akkord, den Margrit Herbst übernommen hatte. Vorher hatte sie eine typische Landtierarztpraxis in Niedersachsen geleitet. Eine Scheidung hatte sie in den Norden verschlagen. Der Teilzeitjob sichert der allein erziehenden Mutter die wirtschaftliche Existenz.

"Ich hatte keine klare Diagnose und war sehr beunruhigt"

1985 hatten britische Behörden den ersten BSE-Fall festgestellt. Im November r 2000 meldete die deutsche Regierung die erste erkrankte Kuh. Doch schon zehn Jahre zuvor hatte Margrit Herbst den Verdacht, dass der Rinderwahnsinn sich auch auf Deutschland ausgebreitet hatte. "Ich ahnte es", sagt die 70-Jährige. Im Sommer 1990 fiel ihr in Bad Bramstedt das erste Tier auf, das sich atypisch trabend vorwärts bewegte und schreckhaft reagierte. "Ich hatte keine klare Diagnose und war sehr beunruhigt."

Margrit Herbst begann, sich intensiv mit der Rinderseuche und der verwandten Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung zu beschäftigen, die Menschen heimsuchen kann. Die schrecklichen Folgen sind bei Menschen und Tieren gleich: Die Krankheit zerstört das Hirn und führt zum Tod.

Nur Tage später entdeckte die Tierärztin drei Tiere mit ähnlichen Symptomen. Sie beschlagnahmte die Rinder vorläufig. Endgültige Entscheidungen fielen nicht in ihre Kompetenzen. Was aus den auffälligen Tieren wurde, weiß Margrit Herbst bis heute nicht. Diese Entscheidung trafen ihre Vorgesetzten. Die wahrscheinlichste Variante: Die Rinder wurden trotz der Bedenken geschlachtet. Oder verkauft und endeten in Hundefutterdosen. Die Vorgesetzten von Margit Herbst wollten einen Beweis der Tiermedizinerin. Margrit Herbst hatte nur einen gut begründeten Verdacht.

Kurz darauf folgten "die Verdachtsfälle 5 bis 7". So hat es die Tierärztin in ihren "Sachen" notiert. Margrit Herbst ließ per Kurier zwei Rinderköpfe zur Untersuchung ins Tiergesundheitsamt nach Hannover fahren. Der Verdacht erhärtete sich, ohne dass eine endgültige Diagnose folgte. Auch diese Tiere wurden vermutlich zerlegt und endeten als Steaks, Hackfleisch oder Futter.

Ein Land ohne Rindfleisch hätte zu dramatischen Folgen geführt

Margrit Herbst begann, Vorträge über die Nachforschungen zu halten. Tagsüber stand sie an der Pforte zum Schlachthof. Nach Feierabend schrieb sie Fachartikel. Noch heute glaubt die Tiermedizinerin, dass sie damals gegen ein Kartell des Verschweigens kämpfte, das Deutschland so lange wie möglich als BSE-freie Zone erhalten wollte - zumindest in den Medien und in den Akten. Ein Land ohne Rindfleisch hätte zu dramatischen wirtschaftlichen Folgen geführt.

Ein Konflikt mit vielen Kapiteln, die ganze Ordner füllten, begann. Die Kreisverwaltung ordnete an, dass Margrit Herbst trotz angeschlagener Gesundheit plötzlich andere, auch schwere körperliche Kontrollaufgaben im Schlachthof übernehmen musste. Sie wehrte sich, Personalgespräche folgten. Im Januar 1992 folgte "Verdachtsfall" Nummer 19. Margrit Herbst fehlte immer häufiger. Die harte Arbeit bei der Begutachtung ganzer Rinderhälften und das Gefühl, gemobbt zu werden, setzte ihr immer mehr zu. Herbst: "Ich bin massiv unter Druck gesetzt worden." 1994 war sie kaum noch im Dienst.

Nach Fall 21 erzählte sie ihre Geschichte bei Günther Jauch

In den wenigen Tagen, die sie im Schlachthof arbeitete, entdeckte sie Fall Nummer 21 und entschied sich, erstmals öffentlich Alarm zu schlagen und erzählte ihre Geschichte in einer Günther-Jauch-Show im fernsehen. Am 31. August 1994 berichtete die Norderstedter Zeitung "BSE-Verdacht auf dem Schlachthof". Andere Medien zogen nach. Noch heute zitiert Margrit Herbst eine Passage aus dem Paragrafen 1 der Bundestierärzteordnung. Zu den Aufgaben eines Tierarztes gehöre es, "den Menschen vor Gefahren und Schädigungen durch Tierkrankheiten sowie durch Lebensmittel und Erzeugnisse tierischer Herkunft zu schützen". Ihr Chef, der damalige Landrat Georg Gorrissen, beurteilte das Verhalten der Tierärztin anders. Am 15. Dezember 1994 erhielt Margrit Herbst die fristlose Kündigung. "Ich war plötzlich mit 54 Jahren arbeitslos", sagt sie. Auch die Norddeutsche Fleischzentrale bemühte die Justiz, um die Tierärztin zum Schweigen zu bringen, und drohte der allein erziehenden Mutter mit einem Ordnungsgeld von 500 000 Mark oder sechs Monaten Haft, wenn sie weiter behaupten würde, in Bad Bramstedt würden Rinder trotz eines BSE-Verdachts geschlachtet und verarbeitet. Margrit Herbst wehrte sich gegen den Vorwurf von Verrat und Lüge und verstand sich als Mahnerin.

Das Arbeitsgericht Neumünster erklärte die Kündigung für rechtens

Margrit Herbst, die damals in Bad Bramstedt lebte, suchte weiter Schutz in der Öffentlichkeit. "Gefeuert, weil sie uns schützen will", schrieb die "Neue Revue" am 21. Dezember unter ein Foto von Margrit Herbst. Der Zeitschrift "Tango" gab sie ein umfangreiches Interview. "Als BSE-Expertin wurde die Medizinerin gelobt", stand neben dem Foto der Frau im weißen Kittel, die zwischen den Kühen stand. "Aber ihre Warnungen wollte man nicht hören." "Gerät die Rinderseuche außer Kontrolle?" fragt der "Berliner Kurier". "Ich befürchte es", antwortete Margrit Herbst.

Während in der Norddeutschen Fleischzentrale weiter bis zu 60 Rinder pro Stunde geschlachtet wurden, BSE in Deutschland immer noch kein Thema sein durfte, war die Karriere von Margrit Herbst ruiniert. Die ohnehin geringen Aussichten auf einen neuen Job nach fristloser Kündigung und den ebenso mutigen wie eigensinnigen Medienauftritten zerschlugen sich endgültig, als das Arbeitsgericht in Neumünster 1995 die fristlose Kündigung für rechtens erklärte.

Triumphaler hätte der Sieg vor Gericht kaum ausfallen können

Ob Margrit Herbst mit ihren Warnungen Recht gehabt hatte, interessierte die Richter nicht. Sie habe den Dienstweg nicht eingehalten und damit das Vertrauensverhältnis in der Behörde nachhaltig gestört, argumentierte das Gericht.

Zwei andere Gerichte gaben ihr jedoch Recht. Das Landgericht Kiel und das Oberlandesgericht Schleswig wiesen die juristischen Attacken des Schlachthofes zurück. Ein eindeutig negatives Ergebnis der BSE-Untersuchungen habe es nie gegeben, schrieb das Oberlandesgericht im Mai 1997 und fügte einen Satz hinzu, der auch in einem Untersuchungsbericht über ein mafiöses Komplott hätte stehen können: "Danach konnte sich (nicht nur) für die Beklagte der Verdacht aufdrängen, dass den staatlichen Stellen im Einklang mit den fleischerzeugenden und fleischverarbeitenden Betrieben sehr daran gelegen war, einen amtlichen BSE-Nachweis wenn irgendmöglich zu verhindern." Außerdem wiesen die Richter darauf hin, dass Diskussionen für Gesundheitsgefahren für die Verbraucher nicht verhindert werden dürften, indem Informanten "einem existenzvernichtenden Haftungsrisiko" ausgesetzt würden. Damit war die 500 000-Mark-Forderung vom Tisch gewischt. Triumphaler hätte der Sieg vor Gericht kaum ausfallen können.

Jahre waren seit dem Kampf in der Kreisverwaltung vergangen, doch Margrit Herbst hatte mit ihrem mutigen Kampf ein Zeichen gesetzt. 2001 erhielt sie den Weltethikpreis für Zivilcourage. Im selben Jahr zeichnete die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler Herbst mit dem Whistleblower-Preis aus, der an Menschen verliehen wird, die trotz großer Widerstände auf Missstände hinweisen. Es folgten die Würdigungen als "Frau des Jahres in Schleswig-Holstein", der Förderpreis für Zivilcourage des Kieler H.G. Creutzfeldt-Instituts und die Ehrennadel "Mutige Löwin" des Deutschen Ärztinnenbundes. Angesichts dieser Würdigungen konnte es Margrit Herbst verschmerzen, dass die FDP-Landtagsabgeordneten Joachim Behm (Bad Bramstedt) und Christel Happach-Kasan es noch im Dezember 2001 für notwendig hielten, in einem Zeitungsbericht zu behaupten, Herbst habe in Bad Bramstedt nie BSE-kranke Rinder gesehen.

Für das Bundesverdienstkreuz sollte sie auf Ansprüche verzichten

Die höchste Ehrung, das Bundesverdienstkreuz, lehnte Margrit Herbst jedoch ab. Wissenschaftler und Berufskollegen hatten sich bei der Landesregierung dafür eingesetzt, die jedoch die Ehrung mit einem unappetitlichen Deal verknüpfen wollte. Die Bedingung: Sie müsse auf ihre Ansprüche gegen den Kreis Segeberg verzichten. Diesen Vorschlag habe ihr die damalige Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter unterbreitet, sagt die Tierärztin. Die Geistliche habe sie im Januar 2002 im Auftrag der Landesregierung um ein Gespräch gebeten.

Wenn am 24. November Rückschau auf den ersten offiziell bestätigten BSE- Fall in Deutschland vor zehn Jahren gehalten wird, wird Margrit Herbst abends auf dem Sofa vor den "Sachen" sitzen. Eine kleine Wohnung unterm Dach in Brokstedt bei Bad Bramstedt ist heute ihr Zuhause. Nach dem Rauswurf vor 15 Jahren, der Arbeitslosigkeit und dem Beginn der Frührente vor zehn Jahren bleibt ihr nur eine kleine Rente pro Monat. "Ich bin immer noch wütend, dass alles so gelaufen ist", sagt die Tiermedizinerin. Wenn sie sich entspannen will, fährt sie ins Nachbardorf zu Blakkur. 32 Jahre ist das betagte Islandpony alt, dessen Name auf Deutsch "Spaß" bedeutet.

Rindfleisch hat sie seit 20 Jahren kaum noch gegessen. Margrit Herbst fürchtet das Risiko, dass auch Menschen sich anstecken könnten.

Die Kreisverwaltung in Bad Segeberg wollte sich nicht über Margrit Herbst äußern.