Eine Leseprobe: Fredo erinnert sich an die Rituale seiner Jugend im holsteinischen Bornstedt

"50 Kilometer Autobahn gen Norden reichten, um den Mercedes an die Grenzen der Schwerkraft zu katapultieren und ein Dauergrinsen in Fredos Gesicht zu zaubern, das erst an Strahlkraft verlor, als nach weiteren zehn Kilometern über Landstraßen, gesäumt von Knicks und schwarzbunten Holsteiner Milchkühen, das leuchtend gelbe Ortsschild Bornstedts in Sichtweite kam.

Fredo erinnerte sich daran, wie sie als Jugendliche manchmal an Samstagabenden weggefahren waren. Meist nach Hamburg oder nach Kiel, mit irgendeinem aus der Clique, der schon den Führerschein und ein Auto besaß oder wenigstens von irgendwem eines ausleihen konnte. Zu viert oder zu fünft auf der Rückbank, mindestens zwei Leute auf dem Beifahrersitz - was ziemlich aufregend sein konnte, wenn genügend Mädchen dazwischen saßen. Und ziemlich ätzend, wenn man die Fahrt im Sandwich zwischen zwei pickeligen Jungstieren hinter sich bringen musste, die ihren samstagnachtfiebrigen Testosteronschweiß mit Billigdeodorant vom Discounter zu übertünchen versuchten - üblicherweise vergeblich.

Nach durchfeierter Nacht am Puls der Großstadt ging es dann zurück. Und egal, in welcher Besetzung sie unterwegs gewesen waren, egal, ob der Mond noch schien oder bereits der Morgen graute. Bei Erreichen des Bornstedter Ortsschildes gab es ein festes Ritual. Anhalten, aussteigen, jeder einen Stein und dann Feuer frei aufs Blech - als ließe sich so bereits im Voraus dafür Rache üben, dass man wieder für eine weitere Woche im Kleinstadtkäfig festsaß. Bis zum nächsten Wochenende.

Einem Spontanentschluss folgend, ließ Fredo den Wagen ein paar Meter vor dem Ortsschild am Straßenrand ausrollen, stieg aus und betrachtete gedankenversunken die Blechtafel. Den Narben und Beulen auf dem Metall nach zu urteilen, lebte die Steinigungstradition anscheinend noch.

Ihn beschlich plötzlich ein mulmiges Gefühl. (...) Alles auf Anfang, fuhr es ihm durch den Sinn. So hieß es am Set, wenn eine Szene wiederholt werden sollte und die Regie alle Schauspieler zur Ausgangsposition beorderte. Damals, vor 15 Jahren, gab es für ihn selbst in den Zeiten finsterster Langeweile stets die Hoffnung: Es würde sich alles zum Besseren wenden, von ganz allein - er musste nur warten. (...) Doch nun... erwachsener würde er kaum noch werden. Lag das Beste in seinem Leben sogar schon hinter ihm? Ohne dass er es überhaupt erkannt hatte, als es für ihn Gegenwart war?"