Bereits 32-mal wurden am Auto von Vera Rasche die Reifen zerstochen. Jetzt zieht die 37-jährige Henstedt-Ulzburgerin in ein anderes Bundesland.

Henstedt-Ulzburg. Die Wohnung im zweiten Stock des Hochhauses an der Lindenstraße ist fast leer geräumt. Ein paar Umzugskartons stehen noch herum, zwei Sektflaschen liegen in der Ecke. In dieser Drei-Zimmer-Wohnung hatte sich Vera Rasche wohl gefühlt - geräumig, behaglich, zweckmäßig für sie und ihre beiden Katzen. Doch jetzt hält die 37 Jahre alte Rheinländerin nichts mehr in Henstedt-Ulzburg. Sie hat die Wohnung gekündigt und zieht in ein anderes Bundesland.

Wohin, will sie nicht öffentlich bekannt geben. Denn Vera Rasche flieht. Sie hat Angst, weil sie seit mehreren Monaten verfolgt wird: Immer wieder haben Unbekannte auf die Reifen ihres Toyotas eingestochen. 32 Reifen wurden zerstört. "Ich bin nervlich und finanziell völlig am Ende", sagt die Frau. "Leider konnte die Polizei mir nicht helfen."

Warum ihr betagtes Auto - der Toyota Yaris hat bereits 300 000 Kilometer auf dem Buckel - Ziel von Anschlägen ist, weiß sie nicht. Sie ahnt aber, dass sie beobachtet und verfolgt wird. Denn der oder die Täter haben auch dann auf die Reifen eingestochen, wenn sie das Auto in anderen Straßen abgestellt hatte. Selbst längere Fußwege nahm Vera Rasche gelegentlich in Kauf, um ihr Fahrzeug zu verstecken - oft vergeblich.

Am 1. Juni vergangenen Jahres begann das Drama. Damals hatte jemand einen spitzen Gegenstand in einen Reifen gestochen. Das passiert eben mal, sagte sich Vera Rasche. Ärgerlich zwar, aber sie dachte sich zunächst nichts weiter dabei. Aber es passierte immer und immer wieder. Manchmal bemerkte sie den schleichenden Luftverlust erst während der Fahrt. "Das war für mich natürlich auch noch sehr gefährlich", sagt sie heute.

Im September vergangenen Jahres hatte das Hamburger Abendblatt bereits einmal über den seltsamen Fall von Reifenstecherei berichtet. Bis zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt 20 Reifen zerstört worden. Durch den Artikel in der Zeitung erhofften sich Vera Rasche und die Polizei nicht nur Hilfe bei der Aufklärung des Falles, sie wollten auch den Täter von weiteren Taten abschrecken. Doch die Anschläge auf den alten Toyota gingen weiter. Immer im Abstand von mehreren Wochen wurden die Reifen des Autos zerstochen. "Es hört einfach nicht auf", sagt Vera Rasche, die sich zwischenzeitlich in psychologische Behandlung begeben musste.

Die finanziellen Reserven der 37-Jährigen sind aufgebraucht

Aber neben der psychischen Belastung gibt es längst auch den finanziellen Aspekt: Jeder zerstochene Reifen muss ersetzt werden - das zehrt die eigentlich kaum vorhandenen finanziellen Reserven der Frau auf, deren befristeter Arbeitsvertrag Ende des vergangenen Jahres ausgelaufen ist. Lediglich der Weiße Ring, Hilfsorganisation für Verbrechensopfer, hat bisher einen finanziellen Beitrag zur Neuanschaffung von Reifen geleistet.

Weil die Reifen selbst dann zerstochen wurden, wenn sie ihr Auto in ruhigen Wohnstraßen, in denen ähnliches noch nie vorgekommen ist, abgestellt hatte, ahnt Vera Rasche, dass mehr dahinter steckt. "Ich fühle mich verfolgt und beobachtet", sagt sie. "Da muss ein Stalker am Werk sein." Sie weiß nicht, welches Ziel derjenige verfolgt, aber sie weiß, dass derjenige sie zermürbt. "Ich kann bei jeder Kleinigkeit losheulen."

Die Polizei konnte ihr nicht helfen. Zwar hatte sie in der Wohnung mit Blick auf den Parkplatz für gewisse Zeit eine Nachtsichtkamera aufgestellt, doch während dieser Zeit geschah nichts außergewöhnliches mit dem Auto von Vera Rasche. Jetzt zieht sie die Notbremse und verlässt Henstedt-Ulzburg. Ihre neue Adresse wird sie nur noch guten Freunden anvertrauen. Noch nicht einmal das Bundesland, in das sie ziehen wird, gibt sie bekannt. Drei Jahre hat sie in Henstedt-Ulzburg gelebt - für sie eine überwiegend schöne Zeit. Bis zum Juni 2011 jedenfalls. Dann begann das Martyrium, das sie an den Rand des Wahnsinns brachte.