Joel Lorenz und Timo Glinka aus Henstedt-Ulzburg stehen einmal in der Woche als kleine Tarzane auf der Musical-Bühne der Neuen Flora in Hamburg-Altona

Angst vorm Fliegen? Hat Joel nicht. Kopfüber schwingt der Elfjährige von einer Kletterwand zur anderen. Mit heller Begeisterung. Joel Lorenz lacht über das ganze Gesicht, die blauen Augen strahlen, die gestylten Haare stehen steif vom Kopf ab, egal, mit wie viel Drive er durch die große Trainingshalle hinter dem Zuschauerraum der Neuen Flora rauscht.

"Das kribbelt im Bauch und macht einen Riesen-Spaß", sagt Joel und gibt Schwung, um wieder an der Kletterwand zu landen. Dort nimmt ihn ein Mitarbeiter des Sicherheitsteams in Empfang. Ohne die schwingt sich niemand aus dem Tarzan-Team über die Bühne und hoch oben über die Köpfe des Publikums hinweg durch den riesigen Zuschauerraum. Das Bungee-Seil ist in Joels Lendenschurz, eine Spezialkonstruktion, fest eingehakt. Joels Körper ist bunt bemalt, seine nackten Füße hat der Junge wie ein alter Profi ums Seil geschlungen.

Joel Lorenz ist einer von elf kleinen Tarzan-Darstellern im Erfolgs-Musical "Tarzan" am Stage-Theater Neue Flora an der Stresemannstraße in Altona. Einmal in der Woche schwingt er als kleiner Tarzan an seiner Liane quer durch den Zuschauerraum. Und landet mit einem tierischen Urschrei auf der Bühne! Plopp! Gleich tobt er los, heckt mit seinem Freund Terk (Rommel Singson) allerlei Unfug aus und macht seinem Gorillavater Kerchak (Ehtan Freeman) das Affenleben schwer.

"Das ist einfach phänomenal, überwältigend, und ich frage mich jedes Mal, ist das mein Kind, das sich dort durch die Luft schwingt?, sagt Joels Mutter Nicole Lorenz, die keine Vorstellung mit ihrem Sohn versäumt und sich jedes Mal wieder wundert, wie prompt ihr Kind auf jede Regieanweisung reagiert.

Doch für seine Mutter in einer der ersten Reihen der Neuen Flora hat Joel gar keinen Blick. Denn sein Musical-Vater Kerchak will das Kind, das nach einem Schiffsunglück im Urwald strandete, aus seiner Familie verbannen. Er fürchtet Ärger mit dem Leoparden, der schon Tarzans Eltern tötete. Aber seine Frau Kala (Melanie Ortner) nimmt Tarzan als ihren Sohn an und verlässt aus Liebe zu ihm sogar ihren Affen-Clan.

Mit seiner richtigen Familie wohnt Joel in Henstedt-Ulzburg, geht auf die Realschule Rhen. Weil sein Foto in der Kartei einer Foto-Agentur steckt, fragte das Stage-Theater an, ob er Lust hätte, ein kleiner Tarzan zu werden. Joel war begeistert!

"Wir suchen immer kleine Tarzane", sagt Kinderbetreuerin Leila Potyka. Pro Casting werden 200 bis 400 Kinder eingeladen. 50 Kinder kommen in die nächste Runde und dürfen an zwei Workshops teilnehmen. Sie lernen Schauspiel und Tanz, dürfen keine Flugangst haben. Zehn bis 15 Kandidaten schaffen den Sprung in die Tarzan-Kinderschule. Die Ausbildung zum kleinen Tarzan dauert acht bis zwölf Monate. Von dienstags bis freitags, 15 bis 18 Uhr, werden aus kleinen Schuljungen mutige, gewitzte Tarzane. Wer Lust auf Tarzan hat, bewirbt sich beim Theater Neue Flora, Kinderabteilung, Stresemannstraße 159 a, 22769 Hamburg, oder unter kleinertarzan@stage-entertainment.de per E-Mail.

"Jede Runde ist aufregend, und ich hatte immer Angst rauszufliegen", sagt Joel. Anstrengend indes sei die Tarzan-Schule nicht, dafür spannend mit Akrobatik, Gesang und Tanz, Bewegungstraining und Kennenlern-Spielen. "Ich war vorher schüchtern, jetzt bin ich selbstbewusster und habe in der Schule auch bessere Noten", freut sich Joel.

Auch sein "Stand By" Timo Glinka ist in Henstedt-Ulzburg zu Hause. Der Zehnjährige fährt immer mit Joel zum Tarzan-Dienst. Falls Joel plötzlich krank wird. Noch ist Timo Schüler der Grundschule Lütte School in Ulzburg-Süd und kickt im Sportverein Henstedt-Ulzburg. Nach den Sommerferien geht er aufs Alstergymnasium, seine Lieblingsfächer sind Kunst und Sport.

"Mein Bruder Christopher hat mal ein Foto-Shooting mitgemacht, über ihn bin ich zu Tarzan geworden", sagt Timo. Sein Bruder ist 14 Jahre alt und öfter beim Casting für Werbefotos dabei. Als Neunjähriger stand Timo zum ersten Mal als kleiner Tarzan auf der Bühne der Neuen Flora: "Das war wie im siebten Himmel."

Auf geht's zum Warm up. Stimmtraining mit Hannes Schauz am Klavier: "JaJaJaJa!" Immer höher schrauben Timo und Joel ihre Stimmen. Dann die nächste Silbe: "DeDeDeDe!" und "ÄhÄhÄhÄääh!", "Mamamamm". Auf einer großen Matte, die fast den ganzen Trainingsraum einnimmt, üben die beiden Affengang, Affenrolle, Flugrolle und Seitwärtslaufen. Wer ist schneller? Dabei kreischen die Jungs ausgelassen, werden im rasanten Tempo zusehends selbstbewusster - und gefühlt sogar größer.

Joel trainiert mit Rommel Singson, als Terk sein Kumpan bei der Affenfamilie, den Tanz durch den Dschungel. Jeder Schritt, jede Drehung, jede Hebung muss sitzen. Vor allem aber muss sie eines: Leicht aussehen, und so, als sei es das Natürlichste auf der Welt, durch den Dschungel zu flitzen.

Erst aber geht es zurück in den vierten Stock der Neuen Flora. Ein paar Türen neben Joels und Timos gemütlicher Kinder-Garderobe mit Fernseher und Bad ist Andrea Lehmanns Reich. Die Maskenbildnerin schneckt Joels Haare, befestigt mit vielen Nadeln und einem Netz das Mikrofon am Hinterkopf und stülpt über diese Konstruktion eine Perücke mit abenteuerlichen Zöpfen. Ab in die Ganzkörper-Schminke. Kinderbetreuerin Leila Potyka assistiert Lehmann. Joel wird von oben bis unten mit brauner Schminke angemalt, dann folgen bunte Pinselstriche vom Gesicht bis zu den Zehenspitzen. Und Joel? Spürbar verwandelt sich der Knirps mit jedem Pinselstrich vom kleinen Jungen aus Henstedt-Ulzburg in Tarzan, den heimlichen Feind des Leoparden. Lehmann und Potyka legen ihm den Sicherheitsgurt für das Bungee-Seil an, darüber kommt der Lendenschurz. Beides ist extra für Joel angefertigt worden. Die Flugseile sind aus dem gleichen Material wie die Seile auf Segelyachten beim Admirals-Cup.

Fertig ist der kleine Tarzan. Noch ein paar Fotos, dann kommen schon die ersten Ansagen, die Show beginnt in wenigen Minuten! Noch ein kurzer, aber herzlicher Handschlag mit dem großen Tarzan, Alexander Klaws, dann heißt es: An die Seile!