Erst jetzt können Wissenschaftler den Ort erforschen, an dem 600 Kriegsgefangene starben . Das Gelände steht seit Kurzem unter Denkmalschutz

Das Profil der Reifen hat sich zentimetertief in die Erde gewühlt. Die Bahnen der Motorräder durchziehen in langen Wegen den Wald an der Bundesstraße 4 und zerreißen den Waldboden und seine Geschichte. Umgestürzte Bäume und tiefe Kuhlen taugen nicht als Hindernis für die Fahrer der Motocross-Maschinen - sie erhöhen den Kick an einem Ort des Grauens. Die Fahrer ahnen vermutlich nicht, dass sie ihre Runden auf einem Areal drehen, auf dem Gewalt und Willkür herrschten, auf dem Hunderte Menschen litten und starben. Wo heute im Dreieck zwischen Kaltenkirchen, Alveslohe und Lentföhrden regelmäßig illegal die Maschinen kreuz und quer umherrasen, liegen die Reste eines Lagers, dem die Nazis einen technokratisch klingenden Namen gaben: Stalag XAz. Der Volksmund spricht es zutreffender aus: "Russenlager" oder "Sterbelager" nannten die Menschen den Komplex, in dem im Zweiten Weltkrieg kranke russische Kriegsgefangene hausen mussten und dessen Geschichte in der Region nur einigen Lokalhistorikern bekannt ist. Seit wenigen Wochen steht die Fläche mit den einstigen Baracken unter Denkmalschutz, weitere sollen folgen.

Bis 2007 nutzte die Bundeswehr den ehemaligen Lagerkomplex

Wissenschaftler können erst jetzt das Gelände erkunden, weil bis zum Jahr 2007 die Bundeswehr auf dem einstigen Lagerkomplex und den riesigen angrenzenden Flächen das Kommando hatte. Das Heer nutzte jahrzehntelang das nach dem Krieg wieder aufgeforstete Gelände als Truppenübungsplatz. "Militärischer Sicherheitsbereich!" stand auf den Schildern an den Zugängen. Auch der Hinweis "Vorsicht! Schusswaffengebrauch!" fehlte nicht. Über die Vergangenheit des Platzes informierte die Bundeswehr ihre Soldaten nicht.

Sie bekamen nur die Anweisung, Abstand zur Gedenkstätte Moorkaten zu halten, wo Inhaftierte des Lagers und des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen-Springhirsch begraben liegen - mehr als 800 Menschen auf einer Fläche von 25 mal 25 Metern. Erst nach dem Abzug der Bundeswehr durften die Flächen betreten werden. Als Erste kamen die Motocrossfahrer und Hobbyforscher, die illegal mit Metallsonden nach Spuren suchten.

"Hier hat über zwei Jahre hinweg Massenmord stattgefunden"

Die Nazis verwendeten die Abkürzung Stalag für "Mannschaftsstamm- und Straflager". Das 1942 eingerichtete Lager bei Kaltenkirchener trug eine nazi-typisch zynische Tarnbezeichnung, die den Zuständen im Lager Hohn sprach: "Erweitertes Krankenrevier." Hier brachte der Nazi-Staat die Kriegsgefangenen unter, die in anderen Lagern geschwächt durch Unterernährung und Infektionen ausgesondert worden waren. Von einer medizinischen Versorgung konnte hier jedoch keine Rede sein.

"Stalag XAz war kein erweitertes Krankenrevier", sagt der Archäologe Willi Kramer. "Hier hat über zwei Jahre hinweg Massenmord stattgefunden." Monatelang hat sich der Wissenschaftler vom Archäologischen Landesamt mit der Geschichte dieses Areals beschäftigt, Luftbilder der Alliierten aus den Kriegsjahren mit heutigen Aufnahmen verglichen, nach Spuren von Krieg und Nazi-Terror gegraben und energisch das Denkmalschutzverfahren vorangetrieben, um zu schützen, was noch übrig ist: Bunker, Fundamente und ungezählte Hinweise auf Zwangsarbeit, die in der Regel zum Tode der Gefangenen führte. Kramer geht davon aus, dass 600 Inhaftierte des "Russenlagers" starben.

Das erst in den vergangenen Monaten wissenschaftlich untersuchte Stalag XAz gehört zu einem gewaltigen Komplex der Luftwaffe des Dritten Reiches. Hermann Göring hatte im Oktober 1935 die Luftkreiskommandos angewiesen, nach Flächen für neue Flughäfen zu suchen. 1938 begannen die Bauarbeiten auf dem Grundstück zwischen der Reichsstraße 4 (heute B 4) im Westen und einem Bahnanschluss zur AKN im Osten, der über die Straße Krauser Baum in Kaltenkirchen an die Hauptstrecke des Eisenbahnunternehmens führte und zur Versorgung des Wehrmachtsstandorts diente. Die Flugzeuge starteten und landeten auf einer Grasfläche, um die eine Straße herumführte.

Der Lokalhistoriker Gerhard Hoch aus Alveslohe und der verstorbene Thomas Hampel aus Kaltenkirchen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv mit dem Gelände beschäftigt, mussten sich aber weitgehend auf Aussagen von Zeitzeugen und dem Studium historischer Quellen beschränken. Ein Besuch auf dem Truppenübungsplatz war tabu.

Parallel zur Reichsstraße 4 reihte sich Anfang der 40er-Jahre Gebäude an Gebäude auf dem Areal, das zum Flughafengelände gehörte. Bereits seit Jahren historisch erschlossen und als Gedenkstätte für Besucher zugänglich sind die Flächen des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen-Springhirsch, das im August 1944 gegründet wurde. Dort inhaftierte die SS Gefangene des Konzentrationslagers Neuengamme. Sie wurden für Arbeiten auf dem Flughafen eingesetzt.

Etwa zwei Kilometer südlich war bereits im März 1941, also Monate vor dem Beginn des Krieges mit der Sowjetunion, Stalag XAz entstanden. Luftbilder der Alliierten zeigen, dass der Komplex im Juni 1942 vollständig aufgebaut war. Die Wehrmacht nutzte unter anderem Gebäude einer Einheit von Marinekraftfahrern, die Kaltenkirchen verlassen hatten. Lokalhistoriker Hampel schreibt in seinem Bericht "Die Geschichte des Flugplatzes Kaltenkirchen", dass außer Sowjetsoldaten auch Kriegsgefangene aus Frankreich und anderen europäischen Ländern an der Reichsstraße 4 inhaftiert waren.

1944 wurden die Gefangenen nach Dithmarschen verlegt

Zu den bis heute ungelösten Rätseln des Stalag XAz gehört die Auflösung im Sommer 1944. Die Gefangenen wurden nach Gudendorf in Dithmarschen verlegt. Warum sich die Wehrmacht zu diesem Schritt entschloss, ist unklar. Parallel zur Verlegung der Kriegsgefangenen entstand weiter nördlich die KZ-Außenstelle. Möglicherweise glaubte die Luftwaffe, damit ihren Bedarf an Arbeitskräften für den Flughafen decken zu können.

Archäologe Kramer geht davon aus, dass mindestens 212 Häftlinge des Konzentrationslagers durch unmenschliche Lagerhaft und die Arbeitsbedingungen starben. Besonders viele Opfer forderte der Bau einer weiteren Landebahn, die die Luftwaffenführung am 10. Oktober 1944 befohlen hatte. Auf der Betonpiste sollte eine der "Wunderwaffen" der Nazis starten und landen. Die Messerschmidt ME 262 war das erste Militärflugzeug der Welt mit Düsenantrieb und sollte mit Angriffen auf alliierte Bomberflotten einen Beitrag zum "Endsieg" leisten. Nachweislich waren mindestens 20 ME 262 in Kaltenkirchen stationiert.

Am 7. April 1945 kamen die "Fliegenden Festungen" der Amerikaner

Ausgerüstet mit Schaufeln und Schubkarren mussten die völlig entkräfteten Häftlinge eine 2,2 Kilometer lange und 80 Meter breite Bahn planieren, die Ende des Sommers 1945 fertiggestellt werden sollte, jedoch wegen des Kriegsendes nicht mehr vollständig gebaut werden konnte. Kramer liegen Statistiken vor, die belegen, dass im November 1944 zu Beginn der Planierungen, vier Menschen starben. Im Dezember waren es 18, in den Monaten danach jeweils 50 und mehr.

Der Einsatz der ME 262 gegen die Bomber sorgte für wachsende Unruhe bei den amerikanischen und britischen Verbänden. Mit einem massiven Angriff am 7. April versuchten die Amerikaner, den Flughafen Kaltenkirchen zu zerstören. Nach Recherchen von Hampel waren an diesem Tag 1200 Bomber über Norddeutschland im Einsatz. Allein 143 vom Typ B17 ("Fliegende Festung") flogen nach Kaltenkirchen und warfen Bomben mit einem Gesamtgewicht von 410 Tonnen ab. Gerhard Hoch berichtet in seinem Werk "Hauptort der Verbannung", dass bei dem Angriff etwa 20 Lagergefangene starben.

Bei seinen Forschungen in Kaltenkirchen entdeckte Kramer Spuren der Bombardierung: Er fand im Wald mehrere Bombentrichter. Die Kuhlen sind bei den Motocrossfahrern besonders beliebt. Kramer ging auch Hinweisen nach, auf dem Gelände könnten sich bislang unentdeckte Massengräber mit sowjetischen Gefangenen befinden, fand jedoch keine Spuren. Vor seinen Grabungen hatte der Wissenschaftler nicht ausgeschlossen, dass die Nazis Hunderte Menschen am Flughafen verscharren ließen.

Hätte sich dieser Verdacht bestätigt, wäre Kaltenkirchen international in den Fokus der Wissenschaft und der Politik geraten. Eine Exhumierung und würdige Bestattung der Toten wäre unumgänglich gewesen, ein historischer Ort von nationalem Rang wäre entstanden. Inzwischen ist Kramer jedoch sicher, dass sämtliche toten Gefangenen von Häftlingen in Moorkaten begraben worden sind. Der Nazi-Ideologie vom russischen Untermenschen folgend mussten sie die Toten der Sowjetarmee in mehreren Lagen übereinander legen. Die Leichen der Franzosen und anderer Länder wurden nebeneinander bestattet.

Morgen lesen Sie in der Norderstedter Zeitung, welche Spuren von dem Lager noch auf dem Gelände zu erkennen sind.