Da behaupte keiner, die Sachsen seien nicht praktisch veranlagt. So zelebrieren sie alljährlich zu Himmelfahrt den Seußlitzer Heiratsmarkt.

Seußlitz. Auf diesem Markt werden traditionell Ehen für einen Tag geschlossen. In Erinnerung an die Auflösung des örtlichen Klosters vor rund 500 Jahren, als die Nonnen auf Bräutigamschau gingen."Zur Kirmes verkommen", murrt Joachim Lehmann (73) und nimmt am weißen Holztisch unter den uralten Kastanien vor seiner Weinschänke Platz. Er hat Besseres zu bieten. Zum Beispiel einen trockenen 2008er Müller-Thurgau mit leichtem Muskatbukett oder einen Schoppen Weißer Sommertraum, beide aus eigenem Anbau. Passt prima zu Weinnudeln oder Rostbrätl mit Zwiebeln, die auf der Karte stehen.

Ein Prosit auf die Sächsische Weinstraße, jene 55 Kilometer zwischen Diesbar-Seußlitz und Pirna. Zwar zählt der Freistaat mit 450 Hektar Rebfläche zu den kleineren Weinanbaugebieten hierzulande, doch wissen Kenner den Tropfen von den Elbhängen der "ostdeutschen Riviera" zu schätzen. Charaktermerkmale sind Säurereichtum und ein geringer Alkoholgehalt. Schilder mit grünen Trauben am Elberadweg weisen den Weg zur Quelle. Lehmann hebt sein Glas und deutet auf den Hügel: Prall hängen rote Früchte an den Stöcken. Die Spitzen liegen abgeschnitten am Boden, damit die Süße nach oben steigen kann. Wenn die warme Witterung anhält, kann die Ernte Anfang September beginnen.

Schon vorher zeigt sich, dass Winzer Lehmann ein Geschichtsbuch auf zwei Beinen ist: Der Mann kann erzählen wie ein Weltmeister. Berichtet vom Grafen Wackerbarth, vom Seußlitzer Schloss nebenan, das Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen, einst errichtete, um der Falkenjagd zu frönen. 1268 stiftete er das Kloster und wies den Gottesdienern Weinberge zu. Weil, das war einzusehen, Messwein vor Ort angebaut werden soll. Bis heute, sagt Lehmann, gelte die Erkenntnis: Am Elbbogen bei Meißen kommt der Frühling etwas eher, der Herbst verweilt etwas länger.

Davon profitiert seine Familie seit 1931, als der Großvater das Anwesen inklusive Schankrecht erwarb. Nach einer Reblauskatastrophe in den 20er-Jahren lag der Weinanbau darnieder, und das traumhaft gelegene Areal direkt gegenüber der Schiffsanlegestelle Seußlitz war günstig zu kaufen. Ein riesiges Holzfass am Ufer zeigt, was hier Sache ist.

Ein mattes Tuten stoppt Lehmann für einen Moment: Gemächlich naht der Schaufelraddampfer "Diesbar", in Diensten der Elbdampfschifffahrts-Gesellschaft in Dresden, Baujahr 1884 und immer noch mit Kohle befeuert. Er gehört zur größten und ältesten Raddampferflotte der Welt, die alle möglichen Ausflugsfahrten offeriert. Während die "Diesbar" noch einmal die Dampfpfeife ertönen lässt und ablegt, fährt Joachim Lehmann fort. Fesselnd berichtet er vom Alltag in der DDR, den angeordneten Traubenlieferungen an die Meißener Genossenschaft in dieser Zeit, der Rückkehr zur eigenen Kellerei 1990. Gemeinsam mit der Ehefrau, drei Kindern plus deren Lebenspartnern sowie einem Enkel organisieren die Lehmanns heute Anbau, Pflege, Lese und Verarbeitung der Trauben auf acht Bergen und vier Hektar, die gemütliche Weinstube und den Hotelbetrieb mit fünf Zimmern. "Steckt 'ne Menge Mühe drin", sagt der Boss. Aber es rechne sich ...

Sohn Joachim (51) zeigt den Weinkeller mit fast 50 000 Litern in Fässern - edelhölzerne für den Roten, stählerne für den Weißen. "Mit der Hand gelesen und schonend verarbeitet", sagt Lehmann junior. In keulenförmige Flaschen abgefüllt, lagert eine sächsische Spezialität, der Schieler. Gekeltert aus Weiß- und Spätburgunder, von lachsroter Farbe. Ein Jammer, dass für einen Geschmackstest keine Zeit bleibt: Gleich fährt der Bus nach Meißen ab.

Morgen: Dresdens "Elb-Professor" ist vom Bazillus des Flusses befallen.