Der Elbort in Brandenburg trägt seit 1996 die offizielle Bezeichnung “Europäisches Storchendorf“: Überall auf den Dächern liegen Horste.

Rühstädt. Um 5.45 ist es um die Nachtruhe geschehen. Nicht nur weil die Sonne scheint, Hähne krähen und irgendwo ein paar Schweine grunzen, sondern weil lautes Klappern die Ohren irritiert. Auf dem alten Wasserturm vis-à-vis stehen zwei Störche und rattern mit ihren roten Schnäbeln. Grund der Aufregung ist ein Kollegenpaar im Anflug, welches das Nest auf der Scheune ansteuert. Artgenossen in der Nähe stimmen in das Klappern ein.

Nun hellwach und neugierig, wird der junge Tag mit einem Spaziergang durch Rühstädt gestartet. Und rasch wird klar, warum der winzige Elbort in Brandenburg mit gerade einmal 240 Einwohnern seit 1996 die offizielle Bezeichnung "Europäisches Storchendorf" trägt: Überall auf den Dächern befinden sich Horste, teilweise mehr als einen Meter hoch und breit, bis zu einer halben Tonne schwer. Vor den Häusern stehen Holztafeln mit präzisen Angaben: Wer hier in welchem Jahr landete und nistete, an welchem Datum der Nachwuchs aus den Eiern schlüpfte, wann es auf große Reise zum Winterquartier in Südostafrika ging. Viele Vögel wurden sogar mit Namen bedacht: Dorette, Isolde, Siegmar oder Aloisius. Doch der Blick wird abgelenkt: Schon wieder überquert ein kleiner Storchenschwarm das Dorf, ruhig und majestätisch. Ein Bild für Götter!

Im schnuckeligen Rühstädt in der Westprignitz ist die Welt noch in Ordnung. Auch weil vor einem halben Jahrhundert Bürger auf die Idee kamen, den zahlreichen Weißstörchen in der wasserreichen Elbniederung mit Altarmen, Qualmwasserbiotopen und Überschwemmungsflächen Nisthilfen anzubieten und auf ihren Firsten Grundlagen für ein kleines Naturwunder schufen. Grenzstreitereien zwischen der Bundesrepublik und der DDR hatten hier ihre gute Seite: Die natürliche Idylle am Zusammenfluss von Elbe und Havel mit Seeadlern, Ottern, Bibern, Schachbrettblumen oder Kuckuckslichtnelken blieb intakt. "Unsere Einladung sprach sich offensichtlich herum", sagt Landwirt Ulrich Blum (56). Liebevoll und sachkundig haben die 68 Mitglieder des örtlichen Storchenklubs Wissenswertes über die wundersame Welt dieser Tiere zusammengestellt - in Zusammenarbeit mit Naturschutzverbänden und Forschern. Regelmäßig werden kostenlose Führungen und Vorträge organisiert. Mit der Folge, dass jährlich mehr als 30 000 Besucher kommen, meist mit dem Fahrrad. Sie staunen nicht nur über Elbcharme und Vogelwelt, sondern auch über das putzige Bauernmuseum, ein Schloss, einen Obelisken sowie über die um 1150 von Zisterziensermönchen erbaute Kirche, deren Schmuckstück eine Wagner-Orgel von 1738 ist. Ein herrlicher Tag mit einer ganz neuen Elbansicht klingt mit anderen Tönen aus: Von der Terrasse des Storchenkrugs sind die beiden Störche auf dem Wasserturm zu sehen - manchmal klappern sie. Uwe Weltin vom Storchenklub weiß Genaues: In diesem Jahr wurden in Rühstädt 140 Störche gezählt. 39 Horste waren besetzt, 31 Pärchen brüteten rund 50 Jungstörche aus. Letztere haben das Dorf bereits gen Afrika verlassen, die restlichen der bis zu 30 Jahre alten Vögel folgen bis Ende dieses Monats. Warum der Nachwuchs voraus fliegt und woher er den 12 000 Kilometer langen Weg über Bulgarien, Syrien und den Sudan kennt, zählt zu den großen Rätseln dieser Tiere.

Morgen: Herr Pötzsch in Roßlau - und die Geschichte seines Schleppers "Otto".