St. Severin auf Sylt ist die Lieblingskirche der deutschen Prominenz. Nun steht ein archäologischer Sensationsfund im Vordergrund.

Sie ist schon von Weitem sichtbar. Mit dem roten Backsteinturm und dem trutzigen weißen Kirchenschiff thront St. Severin auf einer kleinen Erhebung, der höchsten Stelle des Sylter Geestkerns. Der Friedhof umgibt das Gotteshaus am Ortsrand. In diesen Wochen, wenn auf Sylt das Schaulaufen der Prominenten in vollem Gange ist, ist hier ein ständiges Kommen und Gehen. St. Severin, das ist nicht irgendeine Kirche. Das ist d i e Kirche auf Sylt. Wer die Insel liebt und etwas auf sich hält, heiratet in Keitum. Die Brautpaare geben sich in den Sommermonaten die schwere Kirchenklinke in die Hand. Auch Ex-Tennisprofi Michael Stich hat hier geheiratet.

Bei solchen Feiern kommen die Schaulustigen auf ihre Kosten. Dann wimmelt es nur so von Menschen, die jeder aus dem Fernsehen kennt. Auch die Mittwochskonzerte sind legendär. Ob der hauseigene Organist Alexander Ivanov Solokonzerte gibt oder namhafte Gastorganisten auftreten, ob Kammermusik oder Chorkonzert, die Karten verkaufen sich quasi von allein. Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist häufiger Gast in der Kirche, in der sich die Gemeinde in den Sommermonaten an jedem Wochenende neu zusammensetzt, weil immer neue Urlauber kommen.

Nun kann St. Severin mit einem weiteren Superlativ aufwarten. Die Denkmalschützer haben bei der Sanierung des Kirchturms eine sensationelle Entdeckung gemacht. Die Keitumer Kirche, deren Bau bisher auf das Jahr 1240 datiert wurde, ist noch etliche Jahre älter. Sie stammt nach den jüngsten Erkenntnissen aus dem Jahr 1216. "Der Keitumer Kirchendachstuhl ist damit der bisher älteste bekannte Dachstuhl Schleswig-Holsteins", sagt Heiko Schulze vom Landesamt für Denkmalpflege in Kiel. Sogar der Ratzeburger Dom ist jünger - er wird um 1223 datiert.

Der Spezialist für Denkmalpflege Dietrich Fröhler aus Windeby, der die Sanierung leitet, hatte beim Denkmalschutz angeregt, das Alter der Kirche noch einmal genauer zu untersuchen.

"Im Gegensatz zu Steinen und Ziegeln kann es nämlich bei Holz gelingen, das Alter mithilfe der Dendrochronologie genau zu bestimmen", erklärt der Denkmalschützer Schulze. Dabei werden aus den Hölzern fingerdicke Bohrkerne entnommen und anhand der Jahresringe untersucht. Jeder Jahresring ist sehr charakteristisch in seinem Wuchs, abhängig vom Standort.

"Es ist einfach sensationell", sagt die Keitumer Pastorin Susanne Zingel. "Da sind zwölf Kirchen im Meer und in den Wellen versunken und St. Severin hier hat alles überstanden. Auf diese Kirche ist nie eine Bombe draufgefallen, sie ist nie ausgebrannt." Für die Pastorin ist St. Severin, die 1240 in einem dänischen Liegenschaftsverzeichnis erstmals urkundlich erwähnt wird, mehr als nur die bekannteste Sylter Kirche: "Es stimmt, es kommen sehr prominente Menschen her, aber das Charisma dieser Kirche ist nicht durch Prominenz geprägt. St. Severin reicht in archaische Zeiten zurück und die Menschen suchen so etwas heute." Sie ist so etwas wie ein Sehnsuchtsort.

Die Kirche, die ihren Namen dem Bischof von Köln verdankt, hat alle Katastrophen überstanden. Ob nun die Pest von 1350 oder die großen Fluten von 1354 und 1362. "Sie steht für Hoffnung", sagt Zingel.

Und danach lechzen viele Urlauber. "Die Leute sind sehr unter Stress", sagt die Pastorin und meint auch die Prominenten. "Hier kommen sie in die Anonymität und können ihr Herz ausschütten." Für manche wird St. Severin auch zur letzten Ruhestätte - der Hamburger Verleger Rudolf Augstein liegt hier begraben. Doch die Friedhofsruhe wurde im vergangenen Jahr gestört. Seit April 2009 wurde der Kirchturm saniert, der aus dem Jahr 1450 stammen soll.

Sie klettert durch das staubige Kirchengebälk. "Der Muff von 1000 Jahren auf, nicht unter den Talaren", scherzt die Pastorin und klopft sich immer wieder Mörtel und Staub von der Hose.

Sie will unbedingt die Balken zeigen, von denen die Holzproben stammen. Viele mächtige Eichenbalken sind kunstvoll zu einem Dachstuhl verbaut. Alles in allem sieht der Dachboden über dem Kirchenschiff eher irdisch aus. Da stehen noch die Dekorationen einer vergangenen Weihnachtsaufführung und ein Schild weist den Weg nach Bethlehem (zwei Kilometer sind es demnach nur). Zum Aufräumen sei im Herbst immer noch Zeit, sagt die Pastorin und klettert weiter unter das halbrunde Dach der Apsis. Das Sonnenlicht dringt an vielen Löchern durch das kochend heiße Blechdach. "Das ist das Nächste, was wir machen müssen", sagt Zingel. Der Förderverein St. Severin, der auch schon den neuen hölzernen Glockenstuhl finanzierte, wird auch hierfür kräftig in die Tasche greifen. "Wir haben viele Mitglieder und Freunde in ganz Deutschland", so die Vereinsvorsitzende Heide Stöver.

Die 592 000 Euro teuren Baumaßnahmen habe man schon vor der Finanz- und der Kirchensteuerkrise geplant, sagt Pastorin Zingel. "Uns haben sehr viele geholfen, aber uns fehlen immer noch 42 000 Euro."

Da bleibt es ein Rätsel, wie es die Vorfahren der Keitumer geschafft haben, einen ganzen Kirchenbau zu realisieren. "Bedenkt man, wie dünn bevölkert die Landstriche im Mittelalter waren, ist der Bau zahlreicher Inselkirchen eine erstaunliche Leistung", sagt Denkmalschützer Schulze. "Jeder Bau wird sich über Jahre hingezogen haben, denkt man allein an die Beschaffung und Bearbeitung von Tausenden Granitquadern." Dazu kam das mühsame Fällen und Sägen des Bauholzes und der mühevolle Transport. In St. Severin wurde auch Tuffstein verarbeitet, der weit herangeschafft werden musste. Der Bau des Dachstuhls markierte ja erst die Fertigstellung einer Kirche. Das fasziniert auch Susanne Zingel: "Die Menschen haben hier zu der Zeit in geflochtenen Lehmhütten gelebt."

Vermutlich auch Ing und Dung, die den Kirchturm gestiftet haben. Als eine der beiden Schwestern verstarb und die Kirchengemeinde der Toten kein feines Begräbnis ausrichtete, verfluchte die hinterbliebene Schwester das Bauwerk, das zu dem Zeitpunkt erst in den Grundfesten dastand: "Möge, wenn die Keitumer sich weiter so verhalten, dem hochmütigsten Jüngling und der eitelsten Jungfrau die Glocke auf den Kopf fallen." "Wir warten immer darauf, dass es bei einer Hochzeit einen Bräutigam erwischt, der es vielleicht nicht ganz ernst meint", sagt Pastorin Susanne Zingel lächelnd, während sie furchtlos in der Turmhalle steht und nach oben blickt. Denn der Fluch besteht noch fort. "Am Weihnachtsfest 1739 wurde bereits ein Junge von der herabstürzenden Glocke schwer verletzt", zitiert Susanne Zingel aus der Kirchenchronik.

Aber die Schwester hatte ja auch noch die eitelste Jungfrau verwünscht. Die Schlagzeilen wünscht sich hier niemand, dass bei der nächsten Hochzeit die Braut zu Schaden kommt. Die Turmhalle war jedenfalls nach dem Unfall zum Kirchenschiff hin zugemauert und erst 1981 wieder geöffnet worden. Seither dient sie als Eingangshalle.

Aber wozu einen Fluch bemühen, wenn auch die Bauschäden ausgereicht hätten, um die Glocke in dem spätgotischen Turm erneut abstürzen zu lassen oder zumindest Teile der maroden Mauern? "Es hätte jederzeit passieren können, dass Mauersteine abstürzen", sagt Zingel. "Das Mauerwerk war durchfeuchtet, der stählerne Glockenstuhl durchgerostet."

Am Freitag soll endlich das Gerüst abgebaut werden und am Sonnabend feiert die Gemeinde ihr Kirchturmfest. Viele Bewohner des Kirchenwegs stellen ihre Parkplätze zur Verfügung, manche laden sogar auf ihre Terrassen.

Susanne Zingel, die 2005 Traugott Giesen nach 30 Dienstjahren ablöste, hat sich im Ort viele Freunde gemacht. Es war ein schwieriges Erbe, das sie damals antrat. Wortgewaltig war Giesen, sendete auf allen Kanälen, war auf Du und Du mit vielen Gästen. Nun ist eine Frau am Ruder, und Traugott lebt noch in Keitum, spielt aber keine Hauptrolle mehr. Es gehe ihm gut, sagt seine Nachfolgerin.

Es mag ihn wohl schmerzen, dass er nun, da St. Severin durch die Entdeckung der Denkmalschützer noch ein Stück besonderer geworden ist, nicht mehr mittendrin ist, sondern außen vor.

Susanne Zingel freut sich jedenfalls unverhohlen, dass ihre Kirche so ein Kleinod ist und dass sie es ist, die an diesem Sonnabend mit vielen Ehrenamtlichen das große Kirchturmfest auf die Beine gestellt hat. Von 15 Uhr an wird am Kirchenweg gefeiert, dass der Fluch nun wieder für einige Jahre oder Jahrzehnte aufgehalten werden konnte. "Wir sind total glücklich, erleichtert und dankbar", sagt Zingel über die Turmsanierung. Für St. Severin stehen die Zeichen gut, dass man eines Tages auch die 1000-Jahr-Feier zelebrieren kann. Susanne Zingel hat aber noch ein paar handfeste Probleme wegen der Fußball-WM zu lösen. Als sie das Fest vor vier Monaten geplant hatte, war von Deutschland im Viertelfinale noch nicht die Rede. Nun muss sie auf die Schnelle Public Viewing organisieren und braucht dafür noch jede Menge Genehmigungen. "Wir haben die gleichen Auflagen wie die bei der Fanmeile in Berlin", sagt sie und verdreht die Augen. Aber daran sind Ing und Dung ganz bestimmt nicht schuld.