Trotz sinkender Jahrgangszahlen wird es laut der Forschungsgruppe in den nächsten 20 Jahren immer mehr Tatverdächtige geben.

Hannover. Von der demografischen Entwicklung haben sich Polizei und Justiz Entlastung erhofft. Kriminalität konzentriert sich auf Männer zwischen 18 und 30 Jahren, und diese Gruppe schrumpft in den kommenden 20 Jahren dramatisch. Mindestens für Niedersachsen aber gibt es keine Entwarnung: Die Kriminologische Forschungsgruppe am Landeskriminalamt Hannover (LKA) geht davon aus, dass die Zahl junger Straftäter je Jahrgang stärker ansteigt, als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung abnimmt. Die Folge: Die Zahl der Straftäter insgesamt geht nicht zurück.

Sie sind auf der Suche nach Verbrechern, aber das fünfköpfige Team im Landeskriminalamt in Hannover plant keine Festnahmen, sondern wagt Prognosen: Wie sich die Kriminalität in Niedersachsen in den nächsten 20 Jahren entwickelt, das möchte die Politik gerne wissen, und Hartmut Pfeiffer und sein Team von Juristen, Sozialwissenschaftlern und Polizisten arbeiten an "Trendextrapolationen". Mit mathematischen Modellen wird dabei die Kriminalitätsentwicklung fortgeschrieben in die Zukunft.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei die rasante Veränderung der Alterspyramide. Weniger junge Männer - und auf der anderen Seite steigt die Zahl der Menschen über 60 stark an. In ihren Prognosen gehen die Wissenschaftler beim LKA davon aus, dass entsprechend auch die Zahl der straffälligen Rentner in den kommenden 20 Jahren von 15 000 auf dann 25 000 steigt. Diese Steigerung entspricht aber lediglich dem wachsenden Anteil an der Bevölkerung und bringt auch den Justizvollzug nicht in Bedrängnis: Von den gegenwärtig in Niedersachsen einsitzenden rund 5500 Straftätern sind nur rund 200 älter als 60 Jahre. Der demografische Wandel führt also eher zur Entlastung der Gefängnisse, weil von keiner Altersgruppe so wenige Personen einsitzen.

"Die eigentliche Überraschung" für den Juristen Pfeiffer aber ist: "Der Trend der zunehmenden Registrierung junger Straftäter überholt rechnerisch den Trend der sinkenden Jahrgangszahlen". Dies weicht, so Pfeiffer, "erheblich ab von den bisherigen Prognosen". Basis für die Hochrechnung ist dabei der starke Anstieg der Zahl der registrierten Tatverdächtigen von 4,5 Prozent auf neun Prozent eines Jahrgangs in den vergangenen 20 Jahren bei den 18- bis 21-Jährigen. Auch in den Altersklassen darüber gab es starke Anstiege. Diese Entwicklung hat die Kriminologische Forschungsgruppe lediglich fortgeschrieben: "Es ist Mathematik und nicht die Glaskugel." Der für das Projekt federführende Diplom-Soziologe Alexander Gluba geht aber davon aus, dass sich der Anstieg verringern wird. Die stärkste Zunahme erwarten die Wissenschaftler in den Altersgruppen zwischen 21 und 30 Jahren.

Die Forschungsstelle will nun vor allem versuchen, die Entwicklung in den verschiedenen Kriminalitätsfeldern wie Rohheitsdelikten, Betrug oder Einbruch zu untersuchen. "Absehbar ist etwa, dass der Anteil von Straftaten über das Internet weiter zunehmen wird", sagt Gluba. Gewaltdelikte, so seine Einschätzung, werden dagegen in einer alternden Gesellschaft abnehmen. Die Forschungsstelle will noch ein weiteres Vorhaben in Angriff nehmen: Prognosen auf regionaler Ebene. Langfristig wird, so die Vermutung, die Kriminalitätsentwicklung zwischen immer stärker überalterten Harz und der geburtenstarken Region Weser/Ems auseinanderklaffen. Der in den vergangenen 20 Jahren festgestellte starke Anstieg vor allem der Rohheitsdelikte führt der Jurist Pfeiffer übrigens nicht in erste Linie auf eine Brutalisierung der Täter zurück, sondern "auf gestiegene Inakzeptanz" bei den Opfern: "Es werden einfach mehr Sachen angezeigt."