In Emden mischen sich Wut und Unverständnis in die Trauer um die ermordete Elfjährige. Die Eltern beerdigten ihre Tochter. Der Verdächtigte ist frei.

Emden. "Es ist ein schrecklicher Mord geschehen, wir stehen hilflos und verzweifelt davor", sagte Pastor Manfred Meyer vor dem weißen, mit Rosen geschmückten Sarg. "Wir verlieren ein besonderes Mädchen. Lena wird uns fehlen." Im engsten Familienkreis, abgeschottet von der Öffentlichkeit, ist die elfjährige Lena am Freitag auf dem Emder Stadtfriedhof beigesetzt worden. Am vergangenen Sonnabend hatte ein Unbekannter das Mädchen missbraucht und getötet. Der Tod könne die Erinnerung an ein "offenes, Vertrauen schenkendes und Freundschaft stiftendes Kind" nicht nehmen, sagte Pastor Meyer in seiner bewegenden Trauerrede. Eine Stadt, eine ganze Region trauere mit der Familie.

Polizisten hatten den Friedhof komplett abgeschirmt, kontrollierten alle Trauergäste. Die Familie sollte in aller Ruhe Abschied nehmen können, sagte eine Sprecherin der Polizei. Doch die Ruhe, die die Familie gebraucht hätte, war ihr trotz all des Aufwands nicht beschieden. Nur wenige Stunden zuvor, kurz vor 11 Uhr am Freitagmorgen, hatten Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt geben müssen, dass der zwei Tage zuvor verhaftete 17-Jährige nicht mehr zu den Tatverdächtigen gehöre. Vermutlich hat ihn der Abgleich mit den am Tatort gefundenen DNA-Spuren entlastet. Offiziell äußerte sich die Staatsanwaltschaft Aurich nicht dazu.

Diese Nachricht ist nicht nur ein herber Rückschlag für die Ermittler, sie ist eine zusätzliche Belastung für Lenas Eltern. Für den Berufsschüler bedeutet sie, wieder frei zu sein, doch ist der ganze Vorgang für ihn eine Katastrophe : Sein Name, seine Adresse sind in der 52.000 Einwohner zählenden ostfriesischen Stadt längst bekannt. Auf der Internetplattform Facebook kursierten Hassparolen und Mordaufrufe gegen den vermeintlichen Kinderschänder. In der Nacht zum Donnerstag belagerte ein aufgebrachter Mob das Emder Polizeihaus, nachdem zur Stürmung der Wache aufgerufen worden war.

+++ Kommentar: Keine Chance der Wut in Emden +++

Während Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck am Freitag beteuerte, dass sich der Entlassene in Betreuung und Obhut der Polizei befinde ("für seine Sicherheit ist gesorgt"), wächst die Kritik am Vorgehen der Ermittler. Sie hätten den Tatverdächtigen öffentlich in Handschellen vorgeführt und damit den Grundsatz der Unschuldsvermutung missachtet. "Für die Öffentlichkeit hieß das: Die haben den Mörder. Dass der Mob dann nach Strafe verlangt, ist ein Reflex, der ist so alt wie die Menschheit", sagte der angesehene Kriminologe Christian Pfeiffer. "Der Junge wurde dadurch stigmatisiert. Das hätte die Polizei in jedem Fall vermeiden müssen. Sie hat den Jungen öffentlich zum Täter erklärt. Zumal für ein Verbrechen, das im Verständnis des öffentlichen Rechtsempfindens als eines der schlimmsten überhaupt gilt. Der Vorwurf des Sexualmordes an einem Kind hat eine ungeheure Wucht. Kinderschänder erfahren die härteste Ächtung im Gefängnis."

Auch die Strafrechtlerin Martina Renz-Bünning kritisierte die Ermittler nach der Freilassung des 17-Jährigen. "Man hatte den Eindruck, dass sie einen Täter präsentieren wollten", sagte die Vizepräsidentin des Verbands deutscher Strafrechtsanwälte und Strafverteidiger. Es sei fragwürdig, einen 17-Jährigen zu beschuldigen, weil er kein Alibi hatte. Außerdem sei seine Identität nicht ausreichend von den Behörden geschützt worden. "Wie wollen sie diesem Mann je wieder ein normales Leben geben?", fragte die Anwältin.

Der 17-Jährige sei gut beraten, sich einen Rechtsanwalt zu nehmen und die Polizei auf Schadensersatz zu verklagen, sagte Pfeiffer. Nicht nur das: "Die Polizei muss zu ihrem Fehler stehen und Wiedergutmachung leisten. Polizeipräsidentin Heike Fischer müsste öffentlich erklären: Wir haben einen Fehler gemacht." Der Junge habe ungeheuer gelitten, Panik erlebt. Dieses Ereignis werde sein Leben noch lange bestimmen. Dennoch dürfe er sich jetzt nicht verstecken. "Er muss Flagge zeigen, wieder die Berufsschule besuchen. Er muss versuchen ein normales Leben zu leben. Wenn er sich zurückzieht, nährt er Unsicherheit der Zweifler."

Wolfgang Sielaff, Vorsitzender des Opferschutzorganisation Weißer Ring in Hamburg, sagte, dass die Inhaftierung und die schnelle Freilassung des Verdächtigen auch für die Angehörigen des Opfers Folgen habe: "Jeder kann sich vorstellen, dass die Entwicklung dieses Falles eine schwere zusätzliche Belastung für die Hinterbliebenen darstellt." Bei allem Leid könne es eine gewisse Genugtuung gewesen sein, dass der vermeintliche Täter so schnell gefunden schien. Wobei sich aus der Ferne nicht ermessen und beurteilen ließe, wie die Familie auf die wechselhaften Nachrichten reagiere und reagiert habe.

Deutliche Kritik gibt es aber auch an der Vorverurteilung des 17-Jährigen im Internet: "Facebook soll doch ein soziales Netzwerk sein", sagte der renommierte Hamburger Strafrechtsprofessor und Kriminologe Bernd-Rüdeger Sonnen, "aber an diesem Beispiel sieht man doch sehr gut, dass es ebenso gut ein eher unsoziales Netzwerk mit Prangerwirkung ist." Ähnlich äußerte sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Wer zur Lynchjustiz in dem sozialen Netzwerk aufgerufen habe, müsse die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, sagte GdP-Chef Bernhard Witthaut. Es könne nicht angehen, dass einige soziale Netzwerker glauben, "in unserem Rechtsstaat Wildwestmethoden wieder beleben" zu können.

Zwar sei die öffentliche Aufregung menschlich nachvollziehbar, gleichzeitig mahnte Sonnen aber zu mehr Sensibilität im Umgang mit dem Thema. "Für viele ist die Festnahme eines Tatverdächtigen gleichbedeutend mit seiner Schuld." Der Emder Fall zeige aber sehr deutlich, dass diese Gleichung längst nicht immer richtig sei, sagte Sonnen. "Es muss den Menschen klar sein, dass in unserem Rechtsstaat auch ein inhaftierter Verdächtiger als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen wurde." Dass Staatsanwaltschaft und Polizei unmittelbar nach der Festnahme des 17-Jährigen vor einer Vorverurteilung warnten und die Lynchjustizparolen des Mobs scharf kritisierten, sei "in jeder Hinsicht richtig" gewesen.

Bernard Südbeck sagte zu der Kritik an der "öffentlichen Vorführung" des Verdächtigen: "Wir nehmen Festnahmen so vor, dass ein Tatverdächtiger nicht fliehen kann." Polizei und Staatsanwaltschaft hätten "zu jeder Zeit richtig gehandelt". Die Ermittlungen gingen jetzt nicht von vorne los, versprach der Leitende Oberstaatsanwalt - und es klang fast so, als wolle er das Schicksal beschwören: "Wir werden mit Hochdruck weiterarbeiten. Wir haben 170 Hinweise. Wir sind auf einem sehr guten Weg. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir den Täter des Morddelikts auch bekommen werden."