In Lüneburg müssen Mieter ihre Wohnungen verlassen, weil das Haus immer tiefer in die Erde rutscht. Sie gaben eine Party vor dem Haus.

Lüneburg. Die Bässe aus den Boxen wummern bis zum Rathaus, denn vom Ort des gefeierten Widerstands bis zum Verwaltungszentrum der 72 000-Einwohner-Stadt sind es nur wenige Hundert Meter Luftlinie. 25 Bewohner eines einsturzgefährdeten Hauses haben eine Abschiedsparty von ihrem Zuhause angemeldet - weit mehr als zehnmal so viele Gäste kamen.

Es ist keine fünf Wochen her, da erfuhren die Mieter der Frommestraße 5 in Lüneburg, ihr Gründerzeitbau sei einsturzgefährdet. Zwar hat die Stadt sofort Sicherungskonstruktionen aus Holz einbauen lassen. Auf Dauer aber hält das Haus nur noch, weil es Mauer an Mauer zwischen zwei anderen steht. Doch zumindest das rechte Nachbarhaus, Nummer 4, ist auch kein sicherer Kandidat, trotz Stahlbetonplatte, Stahlankern und Holzstützen. Auch die Mieter dort sollen nach Willen des Vermieters raus: bis Ende Mai.

Die beiden um die 100 Jahre alten Mietshäuser stehen genau dort, wo in Lüneburg mehr als 1000 Jahre lang Sole aus dem Untergrund gepumpt worden war. Mit der Folge: Der Untergrund senkt sich, zuletzt 18 Zentimeter in 15 Monaten. Längst ist die Straße für den Autoverkehr gesperrt.

Erdverbunden

Dass ihr Heim ewig halten würde, damit haben auch die Mieter nicht gerechnet. Jana, 25, lebt seit acht Jahren in einer der vier Zehn-Zimmer-Wohngemeinschaften. Geschichten von überlaufenden Suppentellern und schräg gefüllten Kaffeebechern kann die Studentin nicht mehr hören. "Jeder findet solche Sachen irgendwie lustig, und manche fragen, wie wir überhaupt in so einem Haus wohnen können. Doch darum geht es doch gar nicht", sagt die zukünftige Gymnasiallehrerin an diesem lauen Sonnabendnachmittag, an dem Hunderte junge Leute auf der Grünfläche gegenüber laut Aufruf "gegen Gentrifizierung" im Gras sitzen, auf ausgelegten Tüchern tanzen und auf selbst gebauten Baumschaukeln schweben.

Worum es Jana und ihren Mitbewohnern Marcus und Dag geht, ist die Form des Lebens in dem Haus, dessen Fassade zur Straße mindestens einen halben Meter tiefer liegt als die zum Hof. Denn spektakulär sei das Leben zwischen schiefen Wänden gar nicht.

Die Hochbetten sind in Waage gebaut, die Küchenzeilen ebenfalls - nur Gäste haben beim Treppensteigen das Gefühl, in die eine Richtung sei das viel anstrengender als in die andere.

Natürlich rollt eine fallen gelassene Gewürzdose auf dem Küchenfußboden sofort in Richtung Flur. Davon haben die jungen Leute aber keine Lust mehr zu erzählen. Von ganz anderen Dingen wollen sie sprechen. Offen, alternativ und gemeinschaftlich sei das Leben in den Wohngemeinschaften, sagt Jana. "Wir sind keine anarchistischen Zecken, viele von uns engagieren sich in Vereinen und Initiativen. Das hier ist ein sozialer Umschlagplatz." In der Frommestraße leben Studenten, Auszubildende, Freiberufler, Angestellte, Arbeitslose, Kinder und ein 84-Jähriger, für den die "Wohnis" mit einkaufen.

"Deine Stadt"?, fragt ein Pappschild an dem Zaun rund um das brachliegende Grundstück neben der Nummer 4, auf das ein Lüneburger Großinvestor einst Eigentumswohnungen in schicken Glaskuben bauen wollte. Es gründete sich eine Bürgerinitiative. Sie sammelte rund 1300 Unterschriften: aus Furcht vor Gentrifizierung, der Veränderung der Mieterstruktur durch höhere Mieten nach Sanierungen und Neubauten. Und die städtische Informationspolitik ist es, die die Mieter der alternativen Straße zwischen gutbürgerlichem Kreideberg und Innenstadt kritisieren. "Am 20. April hieß es bei der Bürgerversammlung, es sei noch nicht klar, was mit dem Haus passieren soll", sagt Dag, 23, Student der Umweltwissenschaften. "Aber es gibt ein Schreiben vom selben Tag, dass es bis Ende Oktober abgerissen werden soll." Das Gutachten, hatte Lüneburgs Stadtbaurätin Mitte April gesagt, habe die Verwaltung selbst "kalt erwischt. Wir sind davon ausgegangen, dass das Haus nach einigen Sicherungsmaßnahmen standsicher ist." Von der Stadt haben die bald Heimatlosen das Angebot individueller Wohnungen bei Genossenschaften bekommen. Doch die Leute aus der Frommestraße wollen nicht allein wohnen. "Wir sind kein Studentenwohnheim, sondern gesettelte Leute, die in der Stadt bleiben wollen", sagt Marcus, 29, Umweltwissenschaftler und Wildnispädagoge. Und für die 200 Euro warm, die sie heute für ein Zimmer zahlen, finden sie ohnehin kein neues Zuhause.

Bis zum 18. Juni, hat die Verwaltung ihnen geschrieben, müssen sie ihre Wohnungen geräumt haben. Was dann sein wird, das wissen Jana, Marcus und Dag noch nicht. Sie haben erst einmal Widerspruch eingelegt.

Eine Idee aber haben sie: in ein ehemaliges Seniorenheim umzuziehen und dort ein generationenübergreifendes gemeinschaftliches Wohnprojekt zu gründen. Das Haus steht bis auf einen Trakt leer, gehört der städtischen Tochter Gesundheitsholding GmbH. Dort würden dann auch Farina, 26, und Friedrich, 28, einziehen. Das Paar hatte jahrelang in der Frommestraße gelebt, ist im März wegen des erwarteten Nachwuchses aber ausgezogen.

Vorarbeit für ihr Projekt haben ihre einstigen Mitbewohner bereits geleistet und einen Verein gegründet, der als Träger fungieren könnte. Alternativen Wohnformen verschlossen ist die Lüneburger Verwaltung nicht, hat die Kommune doch vor anderthalb Jahren etwas eingerichtet, das anderswo stets wegargumentiert wird: einen offiziellen Bauwagenplatz als Sonderbaufläche für "experimentelle Lebensstile".

In der absackenden Frommestraße geht der Protest am Donnerstag weiter mit einer Demonstration. Dann schallen keine wummernden Bässe hinüber zum Rathaus, sondern kritische Worte.