Eichenwälder gesperrt: Niedersachsen sprüht Herbizide, um massenhaft vermehrte Schädlinge zu vernichten. Naturschützer sind empört.

Hannover. Nicht alle Spaziergänger, die in Niedersachsen am 1. Mai einen Waldspaziergang gemacht haben, konnten die gewohnten Wege benutzen. Denn in diesen Tagen werden zum ersten Mal seit 20 Jahren die Eichenwälder in Niedersachsen großflächig vom Hubschrauber aus mit Pestiziden behandelt und dann für 48 Stunden gesperrt. Was Umweltschützer in die Luft gehen lässt, ist aus der Sicht der Landesforsten unausweichlich, um die Eichenwälder zu retten. Schmetterlingsraupen in bislang ungekannter Befalldichte gefährden langfristig den deutschen Symbolbaum.

Die Landesforsten, die rund 330 000 Hektar landeseigenen Wald bewirtschaften, sind sich durchaus darüber im Klaren, dass ihr Vorgehen mit der eigentlich versprochenen naturnahen Bewirtschaftung der Wälder nicht zu vereinbaren ist. Aber die Experten der Forstlichen Versuchsanstalt in Göttingen haben nach dem vergangenen Jahr und aufgrund aktueller Untersuchungen Alarm geschlagen. "Wenn die Entwicklung so anhält, müssen wir uns um die Zukunft der Eichen sorgen", sagt Helmut Beuke, Landeskoordinator für den Eichenschutz zur aktuellen Situation: "Mittlerweise sind die waldbaulichen Maßnahmen zum Schutz der Eichen ausgeschöpft." Er meint damit vor allem die sogenannten Sanitärhiebe, bei denen einzelne befallene Bäume herausgehauen werden.

Rund 100 000 Hektar Eichenwälder gibt es landesweit, rund 38 000 davon zählen zu den Landesforsten, auf über 4000 Hektar sind inzwischen die Verhältnisse durch den Raupenbefall besorgniserregend. Und auf über 700 Hektar zieht der Landesbetrieb in diesen Tagen die Notbremse durch das Versprühen des Herbizids Karate, gewonnen aus Chrysanthemen. Die Wissenschaftler haben in den vergangenen Wochen das Raupenpotenzial gemessen und sich erschrocken angesichts der Gefahr für die Blätter: "Die Ergebnisse zeigen eine Menge an Raupen, die für einen acht- bis zehnfachen Kahlfraß reicht", so Beuke.

+++ "Bäume im Klimawandel": Am Puls der Eiche +++

Die Waldflächen, die jetzt besprüht werden, liegen zumeist auf einer Achse von Oldenburg bis Lüneburg, besonders betroffen sind die Landkreise Lüneburg, Uelzen und Gifhorn. Hier findet sich das größte Vorkommen an Schädlingen: Frostspanner, Eichenwickler und Schwammspinner. Diese Raupenarten haben bereits in den vergangenen Jahren viele Eichen mehrfach kahl gefressen, und mit jedem Jahr steigt die Gefahr, dass sich die Bäume von einem weiteren Kahlfraß nicht mehr erholen. Als Hauptgrund für die Entwicklung vermuten die Forstwissenschaftler die Klimaerwärmung der vergangenen 15 Jahre mit zu warmen und trockenen Frühjahren. In der ersten Hälfte der 80er-Jahre waren die Eichen bundesweit die Baumart, die am wenigsten betroffen war vom Waldsterben. Heute aber ist sie quer durch die Bundesrepublik die Baumart mit der stärksten Schädigung.

Was sie da tun, ist auch aus der Sicht des Landesbetriebes "die Ultima Ratio". Eine Diagnose, der der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) vehement widerspricht: "Gifteinsatz im Wald richtet mehr Schaden als Nutzen an". Der Nabu-Landesvorsitzende Holger Buschmann ist sich sicher, dass hier ein "Teufelskreis" angestoßen wird: "Die natürlichen Feinde der Raupen, also ihre Gegenspieler wie Fledermäuse und insektenfressende Vögel, werden mit jedem Gifteinsatz weiter zurückgedrängt, und die Fraßinsekten erhalten freie Bahn." Er verweist darauf, dass Stiel- und Traubeneichen an die prognostizierten Klimaveränderungen grundsätzlich besonders gut angepasst sind und bezweifelt die Argumentationskette der Landesforsten: "Kahlfraßereignisse werden seit dem vorletzten Jahrhundert regelmäßig in der Forstliteratur berichtet."

Das für die Raupenbekämpfung eingesetzte Pflanzenschutzmittel nennt er ein "Breitbandgift", gefährlich auch für Fische und Menschen. Die Landesforsten dagegen sind sicher, dass durch die 48-stündige Sperrung der besprühten Wälder solche Gefahren ausgeschlossen werden können. Zudem habe man alle Schutzgebiete nach der FFH-Richtlinie, Vogelschutz- und Naturschutzgebiete ebenso ausgenommen wie Wasserflächen und Naherholungsgebiete. Nabu-Chef Buschmann dagegen hält das alles für Aktionismus: "Sinnvoll wäre es, möglichst wenig zu tun und auf den Aufbau stärkerer Abwehrstoffe der Bäume zu setzen."