Nur drei Monate nach Geburt ihrer zweiten Tochter wird sie Zweite in der Vielseitigkeit von Luhmühlen hinter Sharon Hunt und vor Andreas Dibowski

Luhmühlen. Ingrid Klimke ritt als letzte Reiterin in das Stadion zum abschließenden Springen ein. Mit hauchdünnem Vorsprung führte die Mannschafts-Olympiasiegerin nach Dressur und Geländeprüfung die internationale Vier-Sterne-Vielseitigkeit von Luhmühlen an. Ein Abwurf konnte sich die 42 Jahre alte Amazone aus Münster leisten. Die Zuschauer auf der vollbesetzten Tribüne stöhnten hörbar auf, als Ingrid Klimke und ihr 13 Jahre alter Wallach FRH Butts Abraxxas kurz hintereinander zwei Abwürfe hatten. Damit musste sie den Sieg in Luhmühlen und ein Preisgeld von 33 000 Euro der Engländerin Sharon Hunt mit ihrem Fuchswallach Tankers Town überlassen.

Die 33 Jahre alte Reiterin gewann das abschließende Springen in der Westergellerser Heide mit 47,00 Punkten vor Ingrid Klimke (47,20 Punkte) und Lokalmatador Andreas Dibowski (48,20 Punkte) mit seiner Stute FRH Fantasia. Ingrid Klimke war dennoch hochzufrieden mit dem zweiten Platz, sie hatte in Luhmühlen ein bravouröses Comeback nur drei Monate nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Philippa gefeiert. Und auch Lokalmatador Andreas Dibowski war sehr zufrieden mit seinem dritten Platz im Gesamtklassement. Der Weltranglistenerste hatte im Springen einen Abwurf.

Der Aufstieg von Luhmühlen zu einem Weltzentrum der Vielseitigkeitsreiterei kann Nerven kosten. Auch für die Besucher, die aus ganz Deutschland in das Heidedorf rollen. Die Anfahrt über Salzhausen verzögert sich kurz vor dem Start zur Geländeprüfung. Die Menschenscharen sind erwartungsvoll und sonniger Laune, selbst wenn dunkle Wolken über den Geländeparcours hinweg ziehen.

"Jetzt ist Oliver Townend am E.on-Teich", lässt der Sprecher über mehr als 30 Lautsprecher die Reitfans wissen. "Oh, der Mann aus Großbritannien ist gestürzt. Aber er steht auf. Der Brust-Airbag hat sich geöffnet, den er bei sich führt."

Es sind viele Familien, Freundescliquen und auch viele junge Mädchen, die diese schwierigste Geländeprüfung des Vielseitigkeitssports als Ausflug mit Picknick im Grünen nutzen. "Inzwischen ist Francesca Simoncini, die Frau aus Rom, mit ihrem Schimmel im Ziel", teilt die geheimnisvolle Stimme aus den Lautsprechern in den Bäumen mit.

Zu wem die Stimme gehört und von wo der Mann den Überblick hat, ist nicht einfach, herauszufinden. Dirk-Alexander Lude ist ganz am Rande im wohl ältesten Bauteil des sonst so bunt und freundlich und neu aufgefrischten Geländes untergebracht. Es ist der uralte, grüne Eisenbahnwagon, in dem er vor einem Bildschirm sitzt, der ihm zwölf unterschiedliche Hindernisse und Kameraeinstellungen liefert. Von der Strecke selbst hat der Allwissende am Mikrophon nur den Start und am Ende den Zieleinlauf mit den letzten zwei Hindernissen im Blick.

Wer sich den Wanderströmen von Hindernis zu Hindernis anschließt, hört immer wieder heraus: Viele der Besucher sind über die Reiter und die Pferde gut informiert. Die Vielseitigkeitsreiterei, zu deren Aufstieg Luhmühlen seit Jahrzehnten einen großen Beitrag leistet, ist längst kein Minderheitensport mehr. So überschwemmt der Beifall selbst aus den hintersten Ecken noch das weitläufige Gelände, als angesagt wird: "Am Start jetzt Ingrid Klimke mit Butts Abraxxas." Man muss ihren Ritt nicht einmal auf dem riesigen Bildschirm mitten im Gelände verfolgen, der Beifall zeigt an, wo Ingrid Klimke gerade galoppiert und springt. Als die beiden in den Milford-Teich ein- und wieder aus springen, ist einer der zahlreichen Zuschauer zu hören: "Ist das nicht wunderbar, wie die beiden über die Hindernisse fliegen."

Als Ingrid Klimke nach 10:25 Minuten durchs Ziel kommt und aus dem Sattel springt, nimmt Bundestrainer Chris Bartle sie als Erster in die Arme. Noch außer Atem keucht sie ins Mikrofon: "Die Zuschauer haben mich und mein Pferd über die Hindernisse getragen." Während sie Glückwünsche entgegen nimmt, gibt sie ihrem Konkurrenten Andreas Ostholt noch schnell ein paar Tipps mit auf den Weg. "Wir sind eine große Familie", sagte Ingrid Klimke.

Andreas Dibowski scheint nichts um sich herum wahrzunehmen, als er sich mit FRH Fantasia auf den Start vorbereitet. Nur der Kuss von Ehefrau Susanna, der gehört zum festen Ritual. Als die beiden die letzten Hindernisse überqueren, kreischen junge Mädchen auf, die sich im Zielbereich an den Händen halten. Und sie springen in die Luft, als ihr Chef mit Fantasia durchs Ziel galoppiert. Die Uhr ist bei 10:22 Minuten stehen geblieben. Ein tolles Ergebnis.

Als der Lokalmatador freudestrahlend die vielen Glückwünsche entgegen genommen und das Interview für das Fernsehen gegeben hat, ist Fantasia längst abgewaschen und frisch gemacht. "Ein geniales Pferd", sagte der Harburger Chirurg Dr. Martin Giensch. Der Mitbesitzer der Stute freut sich ebenfalls über den Erfolg.