Die Bewohner müssen das einsturzgefährdete Gebäude in der Frommestraße in Lüneburg verlassen. Demonstranten verschanzen sich.

Lüneburg. Holger Petersen steht draußen vor der Eingangstür dieses Hauses, das gut acht Jahre lang sein Zuhause gewesen ist. Er spielt Akkordeon und singt aus voller Kehle. Eine junge Frau mit Violine hat sich zu ihm gesellt, ein Mann mit Gitarre auch, ein weiterer mit Trompete, und ein dritter gibt mit Trommeln den Takt an. Der Refrain des Liedes, das sie seit Stunden immer wieder anstimmen, hat etwas Kämpferisches: "Zum vierten Mal in vier Jahren - kommt die Polizei." Und dann geht es um die Frommestraße in Lüneburg, die "plattgemacht" werde.

Die Polizei ist in der Tat da, eine ganze Hundertschaft. Und während die fünf auf der Straße Musik machen, durchkämmen Beamte ein Stockwerk höher schon Wohnungen. Die Melodie, die alles untermalt, klingt melancholisch, das Quintett wirkt in all dem Durcheinander, als gäbe es den Choral am Ende der Reise. Für Holger Petersen und seine Mitbewohner fängt die aber erst an. Sie müssen raus aus dem Haus mit der Nummer 4.

Die Lüneburger Stadtverwaltung hat die nach Einschätzung der Bauaufsicht einsturzgefährdete Immobilie am Montag räumen lassen. Die Beschwerde einer Bewohnerin beim Oberverwaltungsgericht war wie berichtet zuvor zurückgewiesen worden. Die meisten Mieter ziehen erst mal zu Freunden; die Stadt hat ihnen aber auch Ausweichquartiere angeboten.

Frommestraße 4 - das ist in Lüneburg längst ein Synonym geworden für die sprichwörtlich wohl schrägste Adresse in der Stadt: Das gelb-weiße Gründerzeithaus liegt nahe einem unterirdischen Salzstock, der Boden senkt sich seit Jahren. Dass sich das Gebäude zur rechten Seite geneigt hat, ist mit bloßem Auge wahrnehmbar. Ein nachträglich verstärktes Fundament, Stahlanker im Dach und Holzstützen unter den Balkonen sollten mehr Stabilität verleihen. Doch Ende September hat Lüneburgs Stadtbaurätin Heike Gundermann festgestellt: "Das Haus ist nicht mehr standsicher."

"Dieses Haus ist nicht mehr bewohnbar. Wir müssen unsere Arbeit tun und diese Menschen vor ihrer Unvernunft schützen", sagt auch Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge. Dass nicht der Eigentümer, ein privater Investor, räumen lasse, sondern die Stadt, erklärt Mädge so: "Der Vermieter mit seinen Rechtsmitteln würde länger brauchen als wir." Es sei kein schöner Morgen für Lüneburg. "Ich ärgere mich, dass überhaupt Polizei notwendig ist."

Die Beamten sind um 7.15 Uhr in der Morgendämmerung angerückt, siebeneinviertel Stunden nach Ablauf der Duldungsverfügung. Zu diesem Zeitpunkt haben Holger Petersen und seine Nachbarn schon mehr als eine Stunde vor der Haustür musiziert. Es ist ihre Weise des Protests. In den weiter oben gelegenen Etagen des ausschließlich an Wohngemeinschaften vermieteten Hauses ist der Widerstand größer. Bewohner und Sympathisanten haben sich verschanzt.

Um 8.15 Uhr gibt Polizeieinsatzleiter Roland Brauer den Befehl zur Räumung. Im Treppenaufgang vom ersten in den zweiten Stock stoßen die Beamten auf ein randvoll gefülltes Wasserbassin, Stacheldrahtrollen, Berge von Sperrholz. Ein Fall für die technische Spezialeinheit der Polizei. Uniformierte mit Kettensägen, hydraulischen Scheren und Generatoren rücken an. Draußen wie drinnen setzt die Polizei auf Deeskalation. "Wir machen das alles in aller Ruhe", sagt Lüneburgs Polizeisprecher Kai Richter. "Die paar Stunden länger wird das Haus auch noch halten."

Die Bewohner, aber auch etwa 100 Unterstützer, sind überzeugt davon, dass es noch viel länger hielte. Sie zweifeln die Gutachten an, auf die sich das Bauamt stützt, monieren, dass ihre Argumente nicht gehört worden seien und vermuten, dass die Stadt dem Eigentümer des Hauses 4 - ihm gehört auch eine Brache nebenan - den Weg für ein Neubauprojekt ebne. Die Stadtverwaltung weist das zurück. Richtig sei, dass der Eigentümer eine Abrissgenehmigung für die Frommestraße 4 erhalten habe - obwohl die Immobilie unter Denkmalschutz steht. Eine weitere Instandhaltung sei für ihn wirtschaftlich nicht mehr vertretbar, sagt Suzanne Moenck, Sprecherin der Stadtverwaltung. Bis neu gebaut werden könne, werde es noch dauern. Moenck: "Erst muss der Boden zur Ruhe kommen."

12.05 Uhr, der Weg nach oben ist frei. Beamte durchkämmen nun auch den zweiten Stock. Silja Pootemans blickt an der Fassade hinauf. Auch in ihrem Zimmer im ersten Stock, das sie vor sechs Stunden verlassen hat, sieht sie nun einen Beamten stehen. "Ist schon komisch", sagt sie, "gerade habe ich noch da gewohnt, und jetzt ist die Polizei drin."

Knapp zwei Stunden später ist die Räumung abgeschlossen. Die sieben Personen, die sich in der zweiten Etage verschanzt hatten, werden herausgetragen. Sie erwarten nun Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs.

Holger Petersen steht draußen vor der Tür und hört auf zu singen. "Ich habe versucht, Abschied zu nehmen", sagt er, "ein bisschen würdevoll."