Risse und Schieflage in jedem Zimmer: Nach Räumung des Nachbargebäudes soll in Lüneburg ein weiterer Altbau abgerissen werden.

Lüneburg. Es ist ein Jahr her, da erfuhren Holger Petersen und Silja Pootemans: Das Haus, in dem sie leben, ist noch acht Jahre standsicher. Es ist eine Woche her, dass die beiden erfuhren: Das Haus wird noch in diesem Jahr abgerissen. Und es ist einen Tag her, dass sie durch Zettel im Hausflur erfuhren: Sie müssen bis Ende Oktober raus.

Wer zu Besuch ist in dem Gründerzeitgebäude, das mehr als 70 Zentimeter schief steht, dem bieten die Bewohner einen Stuhl am Kopfende des Tisches an - da fühlt es sich weniger schief an. "Ich merke das nur noch, wenn ich einige Wochen im Urlaub war", sagt Holger Petersen. Seit acht Jahren lebt der Sozialarbeiter in dem um 3,3 Grad geneigten Haus, das pro Etage eine Wohngemeinschaft beherbergt.

Kein Zimmer ist ohne Riss in dem weiß getünchten, mehr als 100 Jahre alten Haus. Unter die Küchenzeile haben die Mieter Holzstücke gesetzt, damit der Topf auf dem Herd nicht auf der einen Seite schon voll ist, wenn er auf der anderen noch halb leer ist. Metallstreben ziehen sich unter der Decke durch die Räume, die Balkone sind mit Holzverstrebungen gesichert, seit 2004 stärken eine Stahlbetonplatte und ein Stahlanker das Fundament. "Als ich einzog, hieß es, das Gebäude sei voll durchsaniert und sicher, es müsse sich nur noch setzen", sagt der 31-Jährige.

Er hat miterlebt, wie die Stadt das Nachbarhaus Nummer 5 vor drei Monaten wegen Einsturzgefahr hat räumen lassen. Und hat in der Zeitung gelesen, dass das eigene Haus in Kürze abgerissen werden soll.

"Dabei hieß es vor einem Jahr laut einem Gutachten noch, es sei für acht Jahre bewohnbar, wenn der Vermieter statische Maßnahmen durchführen ließe", sagt seine Mitbewohnerin Silja Pootemans, gelernte Erzieherin und studierte Sozialarbeiterin. Rein rechnerisch sollte es noch zwölf Jahre halten.

Doch die Stadt sagt, das Haus sei nicht zu halten, selbst wenn man wollte. Eine Sanierung könne dem Eigentümer "wirtschaftlich nicht zugemutet" werden. Die Mieter dagegen sagen, das Wirtschaftlichkeitsgutachten sei übertrieben. Holger Petersen: "Wir wollen nicht, dass alles schick und neu gemacht wird." Silja Pootemans zitiert das Denkmalschutzgesetz und resümiert: "Es sprechen alle Zeichen dafür, dass ein Abriss von vornherein geplant war und somit nur die Privatinteressen eines Investors widerspiegeln."

Die Mieter sagen auch, die zur Überwachung der Senkungen im gesamten Haus angebrachten Rissmonitore und Gipsmarken hätten im vergangenen Jahr kaum Veränderung gezeigt. Dass sich der Boden beruhigt habe, nachdem die Senkungen sich vor drei Jahren verdoppelt hatten.

Doch seit gestern ist öffentlich: Die Senkungen haben sich noch einmal verstärkt, von damals zwölf auf aktuell 19 Zentimeter pro Jahr. Dass die Rissmonitore nicht anschlagen, liegt laut Stadt an einem "Spannungszustand", der sich jederzeit entladen könne. Um weitere mehr als fünf Zentimeter habe sich das Haus innerhalb eines Jahres geneigt, sagt die Stadtbaurätin. Dass die Grundlagen aus dem Gutachten von vor einem Jahr nicht mehr stimmen. Weil die Kellerdecke sich bei genaueren Untersuchungen als einsturzgefährdet herausgestellt habe und ein angenommener Anker im Dachgeschossgiebel zur freien Seite des Hauses nicht existiert. Der Giebel halte nur noch, weil er sich durch die Schiefstellung mit dem Mauerwerk verkantet habe.

"Das Haus ist nicht mehr standsicher", sagt Heike Gundermann. Die oberste Chefin der Bauten in Lüneburg hat dem Eigentümer eine Nutzungsuntersagung geschickt. Noch sechs Wochen dürfen die Mieter im Haus bleiben, dann wird geräumt. Wie nebenan.

Ein Mitarbeiter der Bauaufsicht hat im Vorwege zudem bezweifelt, ob der Eigentümer die Sicherungsmaßnahmen "rein faktisch" hätte durchführen können: "Bei den notwendigen Sicherungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um ein Abstürzen einzelner Teile zu verhindern, verweigerten die Mieter [...] den Zutritt zu seinem Gebäude."

Ein Stockwerk über Holger Petersen und Silja Pootemans wohnt seit sechs Jahren Theresa Lauw, 28. Sie hat Kulturwissenschaften studiert, sagt: "Ich würde mir wünschen, dass erst einmal ganz genau geprüft wird, was an Sanierung möglich wäre. Auch die abrupte Bodenentlastung durch den Abtrag könnte Schäden an den Häusern in der Nachbarschaft verursachen. Ich vermisse die sozialen und ökologischen Aspekte in der Stadtentwicklung, es scheint nur um ökonomische zu gehen."

Das weisen die Mehrheitsfraktionen im Rat der Hansestadt, der kommunalen Selbstverwaltung, zurück: als "unglaubliche Behauptung" (SPD). Der Grünen-Chef fordert die Mieter auf, sich "Realitäten und Fakten" zu stellen. Die Mieter verhielten sich nach der Devise "wir haben eine Meinung, stört uns nicht mit Fakten".

Für die Nachbarhäuser werde es ein Beweissicherungsverfahren geben, kündigt die Stadtbaurätin an, für Nummer 6 ein Sicherheitskonzept für 25 000 Euro. Ohnehin kostet das Sorgenkind Frommestraße die Stadt viel Geld: Der Eigentümer von Nummer 5 ist abgetaucht, Kosten von 125 000 Euro für die Sicherung sind aufgelaufen.

Unisono wiederholen Verwaltung und regierende Politik: Man habe selbst mit der Entwicklung in dieser Form nicht gerechnet. Man sei vor einem Jahr noch davon ausgegangen, die Häuser retten zu können. Das geplante zukünftige Sanierungsgebiet in dem Viertel solle dafür sorgen, dass es Neubauten zu sozialen Mieten geben werde. Niemand wolle die soziale Struktur der Straße umstrukturieren. Die Verantwortlichen appellieren an die elf gemeldeten jungen Leute, auszuziehen und endlich die Gesprächs- und Unterstützungsangebote der Stadt anzunehmen.

Doch Holger Petersen, der in der Lüneburger Herberge für Obdachlose arbeitet und weiß, dass eine Handvoll ehemalige Nachbarn aus Hausnummer 5 noch immer bei Freunden in versteckter Obdachlosigkeit leben und keine eigene Wohnung haben. "Ich habe schon mit meinen Klienten gesprochen, dass ich wohl bald zu ihnen ziehen werde."