Die 32-Jährige Agnieszka Siwek aus Neetze sucht mit Plakaten verzweifelt nach ihrem seit zweieinhalb Wochen verschwundenen Bruder.

Lüneburg. "Hier könnte er irgendwo liegen", sagt Agnieszka Siwek beim Blick aus dem Fenster des Beifahrersitzes. Rechts neben ihr erstreckt sich ein zunehmend dunkel werdender Buchenwald, dessen Boden von rotbraunen Blättern bedeckt sind. Für sie ist der Sommer vorbei.

Die Landesstraße 221 zwischen Netze und Lüneburg ist die 32-Jährige in den vergangenen Tagen schon so oft abgefahren. Gemeinsam mit Freunden und Verwandten ist sie immer wieder ausgestiegen und in die Wälder gegangen. Was sie dort gesucht hat, kann sie nicht sagen. "Irgendwas."

Vor zweieinhalb Wochen hatte Agnieszka Siwek Besuch von ihrem Bruder. Am Sonntag, 18. September, war er mit seinem Jack Russel Terrier Susi im nahe gelegenen Wald spazieren. "Danach kam er noch kurz herein, nahm einen Schluck Kaffee und musste gleich wieder los", rekonstruiert sie den Augenblick, an dem sie ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hat.

Jan Boleslaw Migas ist nach dem Tod ihrer Mutter vor etwa genau zwei Jahren ihr einziges Stück Familie in der neuen Heimat in der Ostheide. Ihre drei anderen Brüder im Alter von 31, 30 und 15 Jahren leben in Polen. Jan arbeitete als Aushilfe auf zwei Pferdehöfen in der Nähe. Den Feierabend an den Arbeitstagen verbrachte er in einer Dienstwohnung auf dem Gestüt Bockelheide.

Der Besitzer des anderen Pferdehofes, Gerold Gögele, hatte die nahe Verwandte am Dienstagabend angerufen. "Jan ist seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen", hörte Agnieszka Siwek den Mann am anderen Ende der Leitung sagen. Das konnte sie sich bei ihrem "verantwortungsvollen, gewissenhaften und hilfsbereiten" Bruder einfach nicht vorstellen.

"Jan hat mich immer schon oft besucht", erzählt die Älteste der fünf Geschwister. Verabredet waren die beiden wieder am folgenden Mittwoch. "Wir wollten abends zusammen essen", sagt Agnieszka. Ihre Sorge um den zweitjüngsten Spross der Familie schnürt ihr beim Reden sprichwörtlich die Kehle zu. "Ich kann die Tränen nicht unterdrücken", sagt sie. Ihre Angst lässt sie zittern und schlägt der zierlichen Frau sehr auf den Magen.

Angst hat die gelernte Krankenschwester davor, dass der 22-jährige Jan mit seinem blauen Motorroller der Marke Kymco verunglückt ist. Ihre Hoffnung ist, dass er bewusstlos gefunden wurde. "Ich habe alle Krankenhäuser in der Nähe abtelefoniert", sagt sie. Als diese Recherche keine Ergebnisse brachte, suchte sie im Telefonbuch nach dem Wort "Leichenhalle".

"Für mich ist das wie ein Stich ins Herz", beschreibt sie ihre Ungewissheit. Nicht nur, dass sie dem möglichen Tod ihres Bruders eine Chance von 50 Prozent einräumt. Schrecklich findet sie auch die vielen Gespräche mit Nachbarn, Verwandten in Polen und den Ermittlern der Kriminalpolizei. Allen muss sie immer wieder die immer gleichen Fragen beantworten.

Wütend macht die junge Frau einerseits, dass sich die meisten Menschen zuerst einmal nach möglichen Eskapaden ihres Bruders erkundigen. Dass er aber für eine ausgedehnte Zechtour losgezogen ist, kann sie sich nicht vorstellen. "Er ist kein Ausreißertyp oder ein Partygänger."

Fassungslos ist Agnieszka Siwek aber, wenn sie nach einer möglichen Liebschaft ihres Bruders gefragt wird. "Das glaube ich nicht", sagt sie zu einer Theorie der Kriminalpolizei. Demnach kommt eine Affäre als Motiv für ein Gewaltverbrechen in Frage.

Wie berichtet, hat die Polizei nur noch wenig Hoffnung, den 22-Jährigen lebend zu finden. Eine Mordkommission wurde eingerichtet, um die Hintergründe aufzuklären. Die Ermittler haben zwei Verdächtige als mögliche Täter ins Visier genommen. Am Dienstag wurde der Pferdehof Bockelheide durchsucht, Jans Dienstwohnung ist seitdem versiegelt.

"Haarsträubend", sei die Begründung der Staatsanwaltschaft, schimpft Hofbesitzer Dr. Reinhard Koop. Der Beschluss zur Hausdurchsuchung basiere auf der Aussage einer verlassenen Ehefrau, deren Mann Kontakt zur Tochter des Hofbesitzers gehabt habe. Die Aushilfskraft Jan Boleslaw Migas war auf den Betrieben beider Männer beschäftigt. "Das ist doch wie in einem schlechten Film", kommentiert Agnieszka.