Ein Alterssimulationsanzug soll bei Pflegschülern in Lüneburg Empathie für ihre älteren Patienten wecken und lässt sie 75 Jahre alt werden.

Lüneburg. In fünf Minuten mehr als ein halbes Jahrhundert altern - das geht mit Hilfe eines Simulationsanzugs des Instituts für Weiterbildung in der Kranken- und Altenpflege (IWK). "Eigentlich haben wir den für unsere Schüler. Sie sollen dadurch Empathie für die Pflegebedürftigen entwickeln", sagt Schulleiterin Dorothea Kirst-Schmidt.

Ilham Issa ist Auszubildende zur Altenpflegerin. Sie will den Anzug testen. Dazu zieht die 19-Jährige eine zwölfeinhalb Kilogramm schwere Weste und jeweils 350 Gramm Gewichte an den Füßen an. "Die Muskeln bilden sich zurück. Darum ist es schwerer sich zu bewegen. Man kommt sich selbst schwerer vor", erklärt Dorothea Kirst-Schmidt. Um den Hals bekommt Ilham Issa eine Manschette, wie sie Schleudertrauma-Patienten erhalten. "Das simuliert die Einschränkungen im Nacken. Man kann den Kopf nur noch schwer drehen", sagt die Lehrerin für Pflegeberufe. Mit Gehörschutz und gelb getönter Brille werden die Ohr- und Augenbeschwerden simuliert. Ilham Issa hört jetzt alles verzerrt und sieht gelbstichig. "Das begegnet den Altenpflegern später immer wieder. Die alten Leute sehen gelber, dadurch sehen sie Kaffeeflecken auf dem weißen Tischtuch nicht mehr und beharren darauf, dass er sauber ist", sagt Dorothea Kirst-Schmidt.

Dann ist die Zeitreise für Ilham Issa abgeschlossen und sie kann sich wie eine 75 Jahre alte Frau fühlen. Die ersten zwei Minuten als Senior sind erträglich. An das gedämpfte Hören gewöhnt man sich, durch die gelbe Brille sieht die Welt sogar freundlicher aus. Doch als zwei Minuten vergangen sind, machen sich die 350-Gramm-Gewichte an den Füßen bemerkbar. Das Gehen ist anstrengend, Ilham Issa beginnt zu schlurfen. Jetzt soll es die Treppe hochgehen. Ihre Lehrerin Carola Thürling stützt die 19-Jährige, damit sie auf den Stufen nicht das Gleichgewicht verliert. Ganz langsam, Schritt für Schritt, rechts das Geländer und von links gestützt, tastet sich die Auszubildende zur Altenpflegerin hoch. Beständig schaut sie auf die Füße. Oben angekommen, soll es wieder hinab gehen. Den ersten Treppenabsatz schafft die junge Frau ganz gut, wieder mit der Hilfe von Carola Thürling. Sie hat Ilham Issa nicht bloß untergehakt, sondern stützt sie professionell mit beiden Händen von der Seite.

Trotzdem kommt die junge Frau aus dem Gleichgewicht. "Ich hab gedrückt", entfährt es ihr überrascht. Sie habe sich immer gefragt, warum die alten Leute beim Gehen hin und wieder ihre Hand drückten. Jetzt weiß sie es. "Man braucht Sicherheit. Wenn man sich unsicher fühlt, drückt man die helfende Hand und vergewissert sich, dass sie einen stützt", sagt sie.

Die nächste Aufgabe ist banal: Ilham Issa soll sich hinsetzen und einen Schuh auf- und wieder zubinden. Sie lässt sich auf eine Bank plumpsen. Mühevoll beugt sie sich zum linken Schuh. Als sie ihn geöffnet hat, setzt sie sich wieder gerade hin. Sie muss eine Pause machen. "Die Gewichte sind so schwer, dass mein Kreislauf nicht mitspielt", erklärt Ilham Issa. Nach 30 Sekunden Pause bindet sie sich schnell eine Schleife. Beim Aufstehen benötigt die junge Frau wieder Hilfe von Carola Thürling. Dann darf sie den Anzug wieder ausziehen.

Entwickelt wurde der Anzug eigentlich für die Raumfahrt. "Um zu erforschen wie sich in der Schwerelosigkeit die Gelenke und Muskeln verändern", sagt die IWK-Leiterin Dorothea Kirst-Schmidt. Mit einer Ärztin habe man den Anzug nachgebaut. Das IWK hat zwei Varianten: In einem Anzug fühlt man sich wie 75, in einem anderen wie 95. Bei Letzterem schränken schwerere Gewichte die Beweglichkeit weiter ein. Ilham Issa ist froh, dass sie den Anzug ausziehen konnte. "Schlimm war, dass ich so viel Hilfe brauchte", sagt sie. Da sie schlecht gehört habe, habe sie sich streckenweise orientierungslos gefühlt. "Mich hat das total verunsichert", sagt Ilham Issa.

Die Pflegeschülerin glaubt, dass jeder der pflegt, den Anzug ausprobieren sollte. "Man kann sich in die Patienten besser hineinversetzen und versteht plötzlich, warum sie sich so verhalten", sagt sie. Dass sich das Alter von 75 Jahren genauso fühlt wie der Anzug, muss jedoch nicht sein. "Damit wird der durchschnittliche 75-Jährige simuliert. Es kann einem durchaus besser gehen - aber eben auch schlechter", sagt Dorothea Kirst-Schmidt.