Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer von sexueller Gewalt und Missbrauch. Mitunter werden sie auch selbst zum Täter.

Lüneburg. Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer von sexueller Gewalt und Missbrauch, sondern mitunter selbst Täter. Das ergab eine Umfrage des Deutschen Jugendinstituts, das deutschlandweit in mehr als 1000 Schulen und mehr als 300 Kinder- und Jugendheimen nachfragte. 39 Prozent der Heimleiter und 16 Prozent der Schulleiter gaben an, dass es in ihren Einrichtungen den Verdacht auf sexuelle Gewalt von Jugendlichen an Kindern gibt. Sexualpädagogische Konzepte kommen nur in 27 Prozent der Heime zum Einsatz.

Der Diakonieverband Lüneburg will Abhilfe schaffen und plant für das kommende Jahr die Einrichtung und Umsetzung eines Gruppenkonzepts für männliche jugendliche Sexualstraftäter in der Region. Vorgestellt wurde das Konzept unter anderem vor Mitarbeitern der Polizei, der Staatsanwaltschaft, Jugendhilfeeinrichtungen und Jugendgerichtshelfern auf einer Fachtagung im Lüneburger Haus der Kirchen. Der Sozialpädagoge und Leiter der Ökumenischen Ehe- und Lebensberatungsstelle in Lüneburg, Albrecht von Bülow, nannte alarmierende Zahlen. "50 Prozent der Missbrauchsfälle werden von Jugendlichen begangen. Und die Hälfte aller Jugendlichen konsumiert Pornos", sagt der Experte.

Dass südlich von Hamburg Bedarf an einem solchen Hilfsprojekt besteht, belegt ein Blick in die Kriminalstatistik der Polizei. Außerdem sind unter den jugendlichen Sexualstraftätern viele Wiederholungstäter, fast ein Viertel von ihnen begeht bis zu fünf Taten. Besonders häufig zu Übergriffen kommt es in der Schule, jeder sechste Fall geschieht dort. Aber auch die Wohnung des Täters und Jugendhilfeeinrichtungen sind Tatorte. Bei den Jungen zwischen 14 und 17 Jahren, die Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchen, handelt es sich, laut Albrecht von Bülow, häufig um Menschen mit multiplen Problemen. "Das sind Täter die sozial isoliert sind, oft selbst schon Opfer oder Zeuge sexueller Gewalt geworden sind und ein geringes Selbstwertgefühl haben", fasst der Leiter der Ehe- und Lebensberatungsstelle zusammen. Grenzen würden Täter nicht als solche wahrnehmen. Später greifen, wie bei erwachsenen Sexualstraftätern Strategien, die das eigene Verhalten bagatellisieren und verharmlosen. Nicht in allen Fällen werden die Täter angezeigt, die Dunkelziffer liege also vermutlich weit höher.

Helfen soll das Projekt ab 2012 sechs Jugendlichen aus den Landkreisen Lüneburg, Harburg, Stade, Lüchow-Dannenberg, Uelzen und dem Heidekreis, die wegen sexueller Delikte auffällig oder verurteilt worden sind. Unter anderem mit Hilfe von Tatrekonstruktionen sollen sich die Täter unter der Leitung von zwei speziell ausgebildeten Sozialpädagogen dem Geschehen stellen und alternative Handlungsstrategien erarbeiten.

Gleichzeitig sollen in den wöchentlichen Sitzungen männliche Rollenbilder diskutiert werden, die kommunikativen Fähigkeiten trainiert werden und so die Rückfallgefahr miniert werden. "Wir machen dann mit jedem Teilnehmer einen Vertrag, der genau festlegt, welche Rechte und Pflichten er hat. Wer mehrfach unentschuldigt fehlt, muss sich unter Umständen wieder mit den Justizbehörden auseinandersetzen", sagt Albrecht von Bülow.

Das Modellprojekt, das auf eine Laufzeit von 17 Monaten angelegt ist, kostet 50 620 Euro. Die Initiatoren hoffen, dass das Angebot ab 2013 in den Leistungskatalog der Jugendhilfe aufgenommen und mit öffentlichen Mitteln finanziert wird. Im kommenden Jahr startet das Projekt mit Hilfe von Sponsorengeldern. Eleonore Tatge, Beauftragte für Kriminalprävention der Polizeiinspektion Lüneburg-Uelzen-Lüchow begrüßt das Vorhaben.

"So ein Projekt ist notwendig, denn wenn es erfolgreich ist, wird es vielen, die jetzt unsicher im Umgang mit jungen Frauen sind, helfen und ihnen möglicherweise eine kriminelle Karriere ersparen." Die 492 Euro Teilnehmerkosten seien gut angelegtes Geld. "Mit Hilfe solcher Maßnahmen kann die Zahl derer, die auch als Erwachsene Sexualstraftaten begehen um die Hälfte gesenkt werden."

Auch Gabriel Siller, Geschäftsführer des Diakonieverbands, macht sich für das Projekt stark. "Da muss etwas getan werden, was auch im ländlichen Raum Anwendung finden kann. Und das Konzept ist innovativ und kann Modellcharakter in der gesamten Region haben." Aber auch ein anderer Aspekt ist ihm wichtig: "Das geplante Projekt ist auch als Beitrag der Diakonie in der aktuellen Missbrauchsdebatte in kirchlichen Einrichtungen und Schulen zu sehen."