Die Regionalausgabe des Hamburger Abendblatts “Lüneburger Rundschau“ geht auf Sommertour in der Region. Radbruch ist die 18. Station.

Radbruch. Als wäre der Ortsname nicht schon ungewöhnlich genug, überrascht Radbruch mit weiteren Kuriositäten. Cowboys gehören wie selbstverständlich zum Ortsbild und versprühen einen Hauch von wildem Westen. Betagte Traktoren aus längst vergangenen Zeiten knattern über die Straßen und noch heute erzählen sich die Leute Anekdoten über den Wunderheiler Schäfer Heinrich Ast, der Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 1000 Patienten täglich behandelt hatte. "In Radbruch war schon immer viel los", sagt Bürgermeister Achim Gründel.

Auch wenn ein Fahrrad mit gebrochenem Rad am Ortseingang aus Richtung Bardowick den Namen Radbruch symbolisiert, so ist es doch nur ein schönes Kunstwerk. Denn die Geschichtsbücher besagen über die Herkunft des Ortsnamens etwas anderes als einen Radbruch. In einer Lüneburger Chronik von 1269 findet sich unter den Patriziern auch eine Familie "Radebrockii". Deren Mitglieder waren vermutlich Ritter, die im Gebiet des heutigen Radbruchs eine Pferdezucht hatten. Sie sind die Namensgeber.

Und auch für die Cowboys gibt es eine Erklärung. Sie sind waschechte Radbrucher. Die einen gehören dem Country-Club Wild West an. Sie organisieren seit 1996 immer an Pfingsten das weit über die Region hinaus bekannte Countryfest mit vielen tausend Besuchern. Die anderen tragen Cowboyhüte, weil sie tanzbegeisterte Linedancer sind, die in Reihen und Linien vor- und nebeneinander tanzen. Sie nennen sich ganz ortsverbunden "Wheel Breaker".

Radbruch gehört zur Samtgemeinde Bardowick und hat 1978 Einwohner. "Wir sind ein Mehrgenerationen- und Familiendorf, das langsam gewachsen ist", so der Bürgermeister. Die Neubürger kommen vor allem aus Hamburg und Lüneburg. Beachtlich ist die Quote an Kindern. "Elf Prozent der Einwohner ist unter zehn Jahre alt", sagt Gründel. Daher lasse sich die Gemeinde ihre Kinder auch etwas kosten. "Allerdings sind wir kein reiches Dorf. Daher besteht die Kunst darin, mit wenig Geld viel umzusetzen."

Das funktioniert. Erst kürzlich haben die Jüngsten ein neues und modernes Domizil bezogen, das "Huus för Kinner", in dem Krippe und Kindergarten untergebracht sind. Rund 800 000 Euro hat der Neubau gekostet. "Aus Bordmitteln haben wir 600 000 Euro für den Kindergarten geschultert, die Samtgemeinde hat zu 100 Prozent die Krippe finanziert." Die entscheidende Hilfe kam aus Berlin, Mittel aus dem Konjunkturpaket des Bundes flossen für den Neubau.

Neben den beiden kommunalen Einrichtungen gibt es noch die Elterninitiative "Lollipop". "Wir sind ein Verein, der für zehn Radbrucher Kinder einen kleinen übersichtlichen Rahmen bietet. Wir haben ein Häuschen mit einem naturnah gestalteten Spielgarten, gehen regelmäßig mit den Kindern in die Turnhalle und in den Wald", stellt sich die Kita selber dar. Vom Umzug des kommunalen Kindergartens von der Schäfer-Ast-Straße ins neue "Huus för Kinner" an der Straße Op'n Donnerloh profitieren die Grundschüler. Gründel: "Das alte Haus des Kindergartens neben der Schule wird abgerissen, sodass der Schulhof den Kindern künftig mehr Platz bietet und es zudem verkehrssicherer für sie wird."

Um Sicherheit geht es auch dem Pilzberater im Landkreis Lüneburg, Bernhard Frank, der in Radbruch wohnt. Er hilft Sammlern, Speise- von Giftpilzen zu unterscheiden. Oft eine lebenswichtige Aufgabe. Viel früher als üblich, hat er schon jetzt ordentlich zu tun. "Die Pilzsaison läuft seit Wochen auf Hochtouren", sagt er. Normalerweise gehe es erst im September und Oktober los. "Aber wir haben ja jetzt schon Herbst." Was den Menschen auf Dauer aufs Gemüt schlägt, freut die Pilze. "Schwüle, Gewitterregen, Dunst in der Frühe lassen die Pilze kräftig sprießen - bis zu zehn Zentimeter in einer Nacht." Er mahnt zur Vorsicht, weil nicht nur die leckeren Speisepilze wie wild gedeihen, sondern auch die giftigen. "Pilzsammler müssen gut aufpassen. Es gibt zurzeit alles."

Frank ist täglich draußen in den Wäldern. Doch die besten Pilzplätze verrät er nicht. Nur so viel, der Forst Busschewald rund um Radbruch sei ein gutes Revier. "In diesem Jahr gibt es eine Pfifferlingsschwemme", sagt er. Bestmarken purzelten. "Ich habe schon einen 11,5 Zentimeter großen Pfifferling gefunden. Mein bisheriger Rekord stammt von 1982 und lag bei zehn Zentimetern."

Mit Zentimetern gibt sich der größte Arbeitgeber und Gewerbesteuerzahler im Ort nicht ab. Lang am Meter produziert die Firma Orfix unter anderem Geldscheinbanderolen und Münzhülsen für den Weltmarkt. Das Unternehmen kam 1970 aus Hamburg. Es beschäftigt 40 Mitarbeiter. Radbruch ist die Zentrale des international tätigen Betriebs, der Sicherheitslösungen in den Bereichen Geldverpackung und -transport anbietet und zum Beispiel Plomben, Siegel, Sicherheitstaschen, Falschgelddetektoren, Noten- und Münzzählgeräte herstellt. "Wir wollen weiter wachsen und einen Schwerpunkt dabei auch auf die intelligente Videoüberwachung legen", sagt Geschäftsführer Ralf Conrad. Der Hauptsitz in Radbruch wurde in den vergangenen Jahren ausgebaut - zurzeit ist der Verwaltungstrakt an der Reihe. "Ein gutes Argument für den Standort ist der Bahnanschluss", so Conrad.

Die Bahnstrecke hat den Ort seit ihrem Bau 1846 geprägt. Der Bahnhof machte es möglich, dass der 1873 ins Dorf gezogene Heiler Schäfer Ast (1848-1921) täglich tausende Patienten behandeln konnte und Radbruch dadurch einst über die deutschen Grenzen hinaus berühmt war. Seine Nachfahren führten die Praxis lange fort.

Hermann Sinn, der seit 1940 in Radbruch direkt an der Bahn lebt, erinnert sich noch lebhaft an Szenen aus den 1950er-Jahren. "Am Bahnhof prügelten sich Kutscher mit ihren Gerten um Fahrgäste, die zur Praxis gefahren werden wollten." Ihm selber habe der Sohn des Heilers auch geholfen. "Durch Handauflegen wurde ich von Warzen an den Händen befreit", erzählt Sinn, der Ehrenpräsident der Schützengilde ist.

Sein Garten grenzt direkt an die Gleise der Bahnstrecke Hamburg-Hannover und liegt gegenüber dem Bahnsteig. Doch den wird Sinn bald nicht mehr sehen können, weil eine Lärmschutzwand die Sicht dann versperrt. Er freut sich über die Mauer, die ihm mehr Ruhe bringen soll. Sie ist Teil der Streckenerweiterung um das dritte Gleis.

"Weil wir einen Bahnanschluss haben, war das Dorf nie ein verschlafenes Nest", sagt Sinn. Neue Leute sind stets in den Ort gekommen. "Viele Bahnbedienstete, die im Stellwerk oder Fahrkartenverkauf arbeiteten, sind hergezogen." Mit dem ersten Neubaugebiet Ende der 1960er-Jahre begann der große Zuzug. "Damals hatten wir nur 700 Einwohner. Inzwischen sind wir so etwas wie eine Vorstadt von Hamburg mitten im Grünen geworden." Das Ländliche ist jedoch geblieben. Pferde gehören ebenso nach Radbruch wie Bauern. "Wir haben zwei Schweinehalter und zwei Milchviehbetriebe, von denen einer der größte im Landkreis ist", so Bürgermeister Gründel. Zudem gebe eine Biogasanlage und eine zweite sei geplant.

Aber auch alte Landmaschinen gehören zum Dorfbild. "Bei uns gibt es 50 Oldtimer-Trecker, die meisten sind von Deutz", sagt Jürgen Hinrichsen, der selber ein Dutzend alter Traktoren besitzt. Der älteste wurde 1939, der jüngste 1956 gebaut. Auch wenn sie aus betagtem Blech bestehen, gehören sie lange nicht zum alten Eisen. "Meine Trecker sind alle noch im Einsatz. Beim Pflügen, Mähen, Kartoffelpflanzen und Roden", so Hinrichsen.

Zum echten Landleben dazu gehört ein Tante-Emma-Laden. Radbruch hat seit vier Jahren einen und der läuft prima. "Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass das ganze Dorf zum Einkaufen kommt", sagt Geschäftsführerin Margit Schröder, die das Projekt "Unser Laden" mit aus der Taufe gehoben hatte, als der einstige Supermarkt für immer schloss.

"Wir führen alles, was zum täglichen Leben benötigt wird. So groß sollte das Sortiment eigentlich gar nicht werden." Seitdem sich Sparkasse und Volksbank im vorigen Dezember aus dem Ort verabschiedet hatten, können Kunden jetzt im Laden Geld vom Konto abheben.

Gut läuft seit elf Jahren der Bio-Dorfladen von Kirsten Hoffmann, der sogar Kunden aus den Nachbarorten anlockt. Neben Obst und Gemüse finden sich auch Bio-Bier und Bio-Wein in den Regalen. "Bioprodukte sind für mich das einzig Wahre, weil sie gesund und reich an Vitalstoffen sind. Das ist Natur pur und gefällt mir", sagt Hoffmann über ihre Idee, einen Bio-Dorfladen zu betreiben.