Das Abendblatt geht auf Sommertour. Die 17. und nördlichste Station ist Marschacht, dessen Chor bereits in Chicago gesungen hat.

Marschacht. Wer zu diesem Ort bloß "Marschacht" sagt, outet sich in der Elbmarsch als Auswärtiger. Marschacht teilt sich in Nieder- und Obermarschacht, wissen die Elbmarscher. Vor der Gebietsreform zerschnitt die Grenze des Landkreises Harburg den Ort an der Elbe. Das wurde auch nach 1972 so beibehalten. Gewachsen ist der Ort entlang der Elbuferstraße. An ihr stehen Geschäfte, Gaststätten, Gewerbe und behördliche Einrichtungen. Biegt man allerdings nach rechts oder links ab, gelangt man in Wohngebiete, an denen man die Immobilienmode der letzten 300 Jahre nachvollziehen kann.

Gelb geklinkert sind die meisten Häuser im Wohngebiet Am Zentrum. Von der Hauptstraße gehen blumige Wege ab. Im Lilienweg wohnt Marianne Hildebrandt, die Vorsitzende des Frauenchors Elbmarsch. Vor 30 Jahren zog sie mit ihrer Familie von Hamburg nach Marschacht und schloss sich dem Chor an. "Ich singe seit über 50 Jahren - vorher in Hamburg, jetzt hier", sagt sie. 32 aktive Sängerinnen zählt der Frauenchor Elbmarsch, dazu kommen 45 Fördermitglieder. "Wir singen alles: Vom Volkslied über Sakrales bis zum Musical", sagt die 73-Jährige.

Sie singt die zweite Altstimme. Mittwochs treffen sich die Frauen und proben für ihre Auftritte. Alle zwei Jahre begeben sich die Sängerinnen auf Chorreise. Marianne Hildebrandts liebste Reise war im Jahr 2000, da ging es nach Amerika. "Wir waren in New York, haben in Chicago auf der Steubenparade und in Kanada mit einem Baptistenchor gesungen", erzählt sie mit leuchtenden Augen.

Nur ein paar gelb geklinkerte Häuser weiter ist der Kindergarten. In einem Anbau aus hellblauen Paneelen ist die Krippe untergebracht. Im Oktober 2010 wurde sie eröffnet. Zwölf Mädchen und Jungen werden hier zurzeit von drei Erzieherinnen betreut. Das jüngste Kind ist knapp über ein Jahr alt. "Ab 7.15 Uhr bis 16 Uhr sind wir für die Kinder da", sagt Manuela Eckert. Jetzt ist Freispielzeit. Die Kinder sind draußen und fahren mit Laufrädern herum.

"Natürlich haben wir feste Strukturen. Aber wir gehen auch auf die Wünsche der Kinder ein", sagt die 38-Jährige. So könnten die Kinder beispielsweise selbst bestimmen, wann sie Mittagsschlaf hielten. Nebenbei fördern die Erziehrinnen spielerisch die Motorik. Auch erste Tischmanieren bringen sie ihren Schützlingen bei. "Generell habe ich das Gefühl, dass sich die Kinder hier schneller entwickeln, weil sie Größere um sich haben, an denen sie sich orientieren", sagt die Krippenpädagogin.

"Mit 20 Erzieherinnen und einer Integrationsgruppe sind wir in unserem Kindergarten gut aufgestellt", sagt Marschachts Bürgermeister Claus Eckermann. Er findet es wichtig, dass sein Dorf ein Anziehungspunkt für Familien bleibt. "Sonst kommen wir in eine Spirale, wo immer mehr Angebote erst reduziert werden und dann wegfallen", sagt er. Sein Rathaus ist in der ehemaligen Schule untergebracht, direkt an der Elbuferstraße und rot geklinkert. Auch die Samtgemeinde Elbmarsch und die Polizei haben hier ihren Sitz.

Auf dem Dach zur Südseite sind 64 Solarmodule angebracht. Die Samtgemeinde Elbmarsch war mit dieser Idee 2008 Vorreiter für viele andere Einrichtungen. "Nach dem Trafobrand im Kernkraftwerk Krümmel haben wir uns für den Solarstrom entschieden", sagt der Samtgemeindebürgermeister Rolf Roth. Den Ratsmitgliedern sei zu diesem Zeitpunkt bewusst geworden, dass sich ein Kernkraftwerk nicht 100-prozentig von Menschenhand steuern lasse. "Im Durchschnitt kann man mit Solarenergie in Norddeutschland 850 Kilowattstunden gewinnen. Wir liegen immer darüber, etwa bei 900 Kilowattstunden", sagt Roth. Der Strom werde ins Netz eingespeist.

Ebenfalls rot verblendet ist das Sportheim des MTV Jahn Obermarschacht. 1908 gegründet, ist der MTV mit 1150 Mitgliedern der zweitgrößte Verein in der Elbmarsch. Von Fußball bis Line-Dance bietet der MTV seinen Mitgliedern ein breites Angebot an. Erweitert wird das noch durch die Sportcard. Die wurde 2006 von der Samtgemeinde eingeführt. Für zehn Euro im Jahr kann so jedes Mitglied alle Sportangebote der fünf beteiligten Vereine nutzen.

Fachwerkhäuser mit Reetdächern stehen in der Straße am Deich. Das älteste, genannt Rieges Hof, ist 2009 abgebrannt. 1655 war das Reetdachhaus in der typischen Zweiständerbauweise errichtet worden. Dabei werden zwei Ständerreihen länglich im Haus angeordnet. Auf ihnen ruhen die Deckenbalken. "Anders als die meisten Häuser aus dieser Zeit hatten die Balken eine Länge von zwölf bis 14 Metern, statt acht bis zehn Metern", sagt Dirk Düvel. Ihm gehörte Rieges Hof. Im Haus war die Zentrale seiner Apothekenkette "Wir leben" untergebracht.

Kurz vor dem Brand liefen in der Tenne die Umbauarbeiten für einen Veranstaltungsraum. "Die Ermittlungen der Polizei haben ergeben, dass Brandstifter ein Dixi-Klo angezündet haben. Das Feuer griff dann auf das Reetdach über", sagt Düvel. Nur einige verkohlte Balken sind von seinem Haus übrig geblieben. "Die Fläche liegt jetzt brach. Wir müssen das erst einmal sacken lassen", sagt Düvel.

Ebenfalls in einem reetgedeckten Fachwerkhaus, jedoch direkt an der Elbuferstraße, ist der Marschachter Hof. "Die Leitung des Restaurants beruht auf dem Genossenschaftsgedanken", sagt Heiner Hillermann. Das Restaurant gehört 13 Gesellschaftern, fünf von ihnen arbeiten auch als Geschäftsführer. Einer von ihnen ist der 45-jährige Hillermann. Er ist für den Partyservice und die Verwaltung zuständig. Entstanden ist die Idee des genossenschaftlichen Restaurants aus einer evangelischen Jugendgruppe heraus. Samtgemeindebürgermeister Rolf Roth und Kirchentags-Geschäftsführer Hartwig Bodmann haben die Idee 1985 mit einigen Freunden verwirklicht.

Das reetgedeckte Haus wurde allerdings schon viel früher, 1912, gebaut. Es diente als Bahnhof und war die Endstation der Osthannoverschen Eisenbahn. Wo früher die Gleise waren ist heute der Saal mit Platz für 100 Feiernde. Heiner Hillermann kam 2001 als Geschäftsführer dazu. "Neben den Geschäftsführern gibt es noch elf Festangesellte und 20 Aushilfen", sagt er.

Die Eisenbahn fährt inzwischen nur noch bis zur chemischen Fabrik Bruno Bock vor den Toren Marschachts. In einem hellen Büro mit viel Glas sitzt der Geschäftsführer Detlef Schmidt. "Wir beliefern 80 Prozent des Weltmarktes mit Thioglykolsäure für Dauerwellen, Haarglättungen und Haarentfernungen", sagt er. 1968 kam der Firmengründer Bruno Bock nach Marschacht. Seitdem wurde die Firma immer weiter ausgebaut. 28 000 Quadratmeter ist das Gelände groß, 108 Mitarbeiter, der Großteil aus Marschacht und der näheren Umgebung arbeiten hier. Inzwischen werden nicht nur Moleküle für den Kosmetiksektor, sondern auch PVC-Stabilisatoren und Härtungsmittel für Lacke hergestellt. "Wir forschen gerade an einem besonderen Kunststoff, mit dem Brillengläser bei hohen Sichtstärken trotzdem schmal bleiben", sagt Schmidt.