Die Abendblatt-Regionalausgabe geht auf Sommertour. Die zehnte Station führt nach St. Dionys mit seinem idyllischen Heidedorf

St. Dionys. Es begann mit einem Wunder. Der Frankenkönig Karl der Große rastete in einer Gewitternacht auf einem Sandhügel. Dabei hatte er eine Reliquie, den heiligen Dionysius, mit einem Leichentuch bedeckt. Ringsherum standen Kerzen. Ein Windstoß warf die Kerzen auf das Leichentuch, sie brannten aus ohne das Leichentuch zu entzünden. An dieser Stelle ließ Karl der Große eine Feldkirche zu Ehren des St. Dionysius errichten. Das war 795 und der Beginn der Geschichte des Dorfes St. Dionys. "So lautet die Sage, ob das alles stimmt, wissen wir natürlich nicht", sagt Wilhelm Hoop.

Der 79-Jährige Diakon im Ruhestand hat die Geschichten rund um St. Dionys zusammengetragen. "Die Kirche ist langsam gewachsen. Erst gab es nur einen Altar, der wurde überdacht. Viel später wurde ein kleines Schiff gebaut, damit die Gottesdienstbesucher nicht im Regen stehen mussten", sagt Wilhelm Hoop. Um den Altar herum entstand eine Pfarre. 1333 taucht die mit dem Namen St. Dionys zum ersten Mal auf. Da die Geistlichen nicht das gesamte Gelände bewirtschaften konnten, wurde es in dreieinhalb Höfe aufgeteilt. Auf denen wohnten die sogenannten Pfarrmeier. "St. Dionys dürfte das einzige Dorf sein, das aufgrund einer Kirche entstanden ist und auch noch deren Namen trägt", glaubt Hoop.

450 Einwohner hat St. Dionys heute. Landwirte gibt es keine mehr. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es 90 Einwohner. Auch das so genannte Heidedorf hat für den deutlichen Zuwachs an Bürgern gesorgt. Entworfen hat es der Architekt Udo Barth. "1970 wollte der Baukonzern Neue Heimat auf etwa 30 000 Quadratmetern moderne Geschosswohnungen bauen", erzählt er. Um die Zerstörung der schönen Landschaft zu verhindern, habe er die Idee dagegen gesetzt, ein regionaltypisches Heidedorf mit verschiedenen reetgedeckten Fachwerkhäusern zu bauen.

"Mit dem Kapital von zwei Produzenten und einiger Gründer aus Lüneburg wurde die Idee Wirklichkeit", sagt der Architekt. Aus der gesamten Region wurden alte, teilweise baufällige, Fachwerkhäuser und zum Teil Baudenkmäler angeliefert und nach Barths Planungen wieder aufgebaut. Wohnungen und Häuser zwischen 30 und 300 Quadratmetern entstanden.

"Nur die Materialien sind echt alt, der Stil ist Barth", sagt Bewohner Hans Weingärtner. Der 47-Jährige Physiotherapeut wohnt in einem ehemaligen Restaurant im Heidedorf. "Udo Barth war seiner Zeit weit voraus. Die Räume sind sehr großzügig, es gibt kaum kleine Zimmerchen", sagt er. Das Heidedorf ist wohl die einzige bewohnte Siedlung dieser typischen Häuser. "Umbauten und Modernisierungen wird es immer geben, weil jeder seine Ideen einbringen will", sagt er. Totzdem gebe es strenge Richtlinien, wie Haus und Garten außen auszusehen hätten, innen sei die Gestaltungsfreiheit größer.

Im Heidedorf wurde bis 1984 die siebenteilige Fernsehserie "Geschichten aus Kalmüsel" gedreht. "Busse voller Fans wollten sich das Dorf einmal angucken. Für die Bewohner war das schrecklich", sagt Hans Weingärtner.

Mit dem Heidedorf errichtete Udo Barth auch den 18-Loch-Golfplatz vor den Toren von St. Dionys. 1972 wurde er fertiggestellt. 1000 Mitglieder hat der Club inzwischen, die können auf 74 Hektar in allen Schwierigkeitsstufen golfen. Seit 16 Jahren wird der Platz immer unter die zehn besten der 700 Anlagen in Deutschland gewählt. "Der Golfplatz wird besonders für seine Ruhe immer wieder gelobt", sagt Clubmanagerin Katrin Grapentin. Besonders anziehend ist ihr Platz für Fußballspieler. "Ex-HSV-Spieler Manfred Kalz hat mal in St. Dionys gewohnt und kam zum Spielen zu uns", sagt die 34-Jährige Golfbetriebswirtin. Auch der ehemalige HSV-Torwart Frank Rost oder der "Kaiser", Franz Beckenbauer, sind Mitglieder im Golf Club St. Dionys. "Vor kurzem war auch Michael Ballack da. Er spielt allerdings besser Fußball", sagt sie.

Neben dem Golfclub gibt es nur einen weiteren Verein in St. Dionys: die Feuerwehr. 1950 wurde sie gegründet und hat 28 Mitglieder. 1981 war die St. Dionyser Wehr die erste, die auch Frauen aufgenommen hat. Darauf war die Berufskleidung der Rettungskräfte nicht ausgelegt: Kleine Schuhe für Frauen gab es nicht. Die kamen anfangs in Melkstiefeln, damit sie wenigstens Stahlkappen in den Schuhen hatten. "Meistens werden wir zu Hilfseinsätzen und Kleinbränden gerufen", sagt Ortsbrandmeister Hermann Ravens, "und bei Hochwasser müssen wir natürlich an die Elbe und Sandsäcke stapeln." Seit vier Jahren können auch die kleinen St. Dionyser in die Feuerwehr, seitdem gibt es eine Kindergruppe für Vier- bis Zehnjährige. "Die meisten Kinder kommen zu uns, weil sie helfen wollen", sagt Matthias Schröder. Er ist einer der vier Kinderbetreuer. Floriangruppe wird die Kinderfeuerwehr liebevoll im Ort genannt-. "Florian ist der Schutzpatron der Feuerwehr", erklärt der 41-Jährige stellvertretende Ortsbrandmeister. Einmal im Monat treffen sich die Kinder, um spielerisch mit der Feuerwehr in Kontakt zu kommen. "Wir hoffen natürlich, dass die Kinder später in die Jugendfeuerwehr gehen und dann weiter aktive Mitglieder bleiben", sagt Schröder.

In der Kinderfeuerwehr ist auch Nele Schwemer. Die Neunjährige aus dem Nachbarort Horburg besucht oft ihre Freundin Jeska Seiffert in St. Dionys. "1993 sind wir hergezogen", erzählt ihre Mutter Heike Seiffert, "damals hatten wir keine Kinder." Als vor 14 Jahren ihre erste Tochter Lilly auf die Welt kam, habe sie gemerkt, wie sehr im Dorf die Infrastruktur fehlt. "Man muss wegen jeder Milchtüte fahren", sagt sie. Kita und Schule sind in Horburg.

"Dafür können hier die Kinder auf der Straße spielen und wir haben die räumliche Nähe zu Hamburg und Lüneburg", sagt Heike Seiffert. "Ich bin gern draußen. Bei uns ist es nicht laut, weil es nicht so viele Autos gibt", sagt ihre Tochter Jeska. "Mit der letzten Kneipe ist auch ein Stück Leben aus St. Dionys gegangen", bedauert ihre Mutter.

Die letzte Kneipe war ein Grieche. Seit der vor zwei Jahren wieder in sein Heimatland zurückgekehrt ist, steht das Haus leer. "Zur besten Zeit gab es hier zwei Gaststätten und einen kleinen Kaufmannsladen", sagt Bürgermeister Werner Meyn. "Für eine Fünf-Pfennig-Packung Hefe ist der Kaufmann nach Lüneburg gefahren und hat sie einem besorgt", erinnert sich Alt-Bürgermeister Fritz Fehlhaber. Auf seinem Hof war auch die zweite Gaststätte untergebracht. Sie schloss vor vier Jahren.

Früher hat sie seine Familie betrieben. Die hatte sogar eine Brennerei. Darin wurde der Alte St Dionyser Doppelkömer hergestellt. "Ursprünglich waren die Gaststätten offizielle Ausspannorte. Dort haben die Gottesdienstbesucher ihre Fuhrwerke ausgespannt und sind nach dem Gottesdienst einen Trinken gegangen", sagt Fehlhaber. In der Gaststätte hätten sie so lange angeschrieben, bis der Wirt die Zeche verlangt habe. Dann mussten sie ein Stück Land abtreten. "Das sind die sogenannten Kömkoppeln", sagt Fehlhaber.

Bis zur Gebietsreform war er Bürgermeister. "Ich habe Dionys erst einmal Straßennamen und Hausnummern gebracht. Das gab es vorher nicht", sagt er. Das ist eine weitere Besonderheit des Dorfes: Die Straßenschilder sind aus Holz geschnitzt. Das hat ein Tischler aus Himbergen gemacht. Vor einigen Jahren wurden die Eichenschilder aufgearbeitet und weisen den Weg nun in neuer Frische.