Geschichtsgruppe stellt Strafanzeige gegen Unbekannt wegen der Erhängung Marjan Kaczmareks im Jahre 1942

Lüdershausen/Lüneburg. Ein Abend Ende Juli. Eine leichte Brise weht über den Hof von Ernst Dittmer in Lüdershausen, bringt endlich etwas Abkühlung. Es ist schon spät: zu spät. Nach 22 Uhr müssen Zwangsarbeiter wie er eigentlich auf ihrer Kammer sein, doch Marjan Kaczmarek möchte noch ein wenig frische Luft schnappen. Müde lässt er sich auf einen Stein sinken, als plötzlich Gestalten vor ihm auftauchen - die von den Nazis eingesetzte Landwache, die die Ausgangssperre der Zwangsarbeiter überwacht. Als sie ihn auffordern, auf seine Kammer zu verschwinden, greift er sich eine Mistgabel, nimmt eine drohende Haltung ein. Das kostet ihn das Leben: Am 15. Oktober 1942 wird der 18-jährige Marjan Kaczmarek in Lüdershausen auf Befehl der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) erhängt.

So oder so ähnlich mag es sich auf dem Dittmerschen Hof damals zugetragen haben - Genaues weiß man nicht. Um Licht in die dunkle Zeit zu bringen, forscht die Geschichtsgruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in Sachen Lüneburger Gestapo. Und hat jetzt Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt: "Mord verjährt nicht", sagt Hobby-Historiker Peter Asmussen.

Und Mord scheint es tatsächlich gewesen zu sein, glaubt auch Oberstaatsanwalt Roland Kazimierski, der nun für diesen Fall zuständig ist. "Die Sterbeurkunde scheint dies zu belegen", sagt er. Hier steht, fast unleserlich zwar in krakeligem Sütterlin, aber doch zu erkennen: "Tod durch Erhängen durch die Staatspolizei".

Kaczmarek ist kein Einzelfall. "1942 gab es in Lüdershausen und Umgebung fast mehr Zwangsarbeiter als Einwohner", erklärt Asmussen von der Geschichtsgruppe: Die deutschen Männer waren an der Front, weshalb die Nazis zum Beispiel aus Polen Zwangsarbeiter rekrutierten, die die Arbeit auf den Höfen zu erledigen hatten. Marjan Kaczmarek wurde als 15-Jähriger entführt, er arbeitete gut zwei Jahre auf dem Lüdershausener Bauernhof - ein korrekter, tüchtiger, lebensfroher und freundlicher junger Mann, so die vorherrschende Meinung der Lüdershausener damals, wie Bürgermeister Herbert Meyn (SPD) berichtet.

Und trotzdem: Es gab Lüdershausener, die die braune Fahne hoch hielten - und viele seien hinterher marschiert, so wird gemunkelt. Auch wer den polnischen Jungen an die Obrigkeit verraten hat, soll bekannt sein. Darüber reden möchte aber niemand. Asmussen: "Es ist unfassbar, ein ganzes Dorf hat Jahrzehnte geschwiegen!"

Bürgermeister Herbert Meyn kann dies nicht abstreiten: "Das Thema war sehr lange tabuisiert", gibt er zu. Es müsse aufgeklärt und aufgearbeitet werden, was damals passiert sei, sagt er - die Staatsanwaltschaft einzuschalten hält er aber für "populistisch". Mal ganz davon abgesehen: "Es gibt keine Zeitzeugen mehr, und die jüngeren Generationen wissen von nichts." Wer habe schließlich nach der Nazi-Ära noch über seine braune Vergangenheit sprechen wollen?!

Und so sind es nur ein paar magere Fakten, die vom Schicksal Marjan Kaczmareks erzählen: Nach der Meldung des damaligen Lüdershausener Bürgermeisters Otto Rieckmann wurde der Pole am 1. August 1942 ins Lüneburger Gerichtsgefängnis eingeliefert. Aktenzeichen: IIA 2845/42. Hier wurde dann laut Manfred Messer von der Geschichtsgruppe überprüft, ob Kaczmarek "eindeutschungsfähig" war - "schließlich wollte man nur reinrassige Polen umbringen und keinen, der deutsches Blut in sich hatte". Bei Kaczmarek wurde dies offensichtlich negativ beurteilt. Per Fernschreiben wurde dies an die Reichssicherheitszentrale gemeldet, wo hohe SS-Beamte wie Heinrich Himmler oder Gestapo-Müller einen Hinrichtungsbefehl ausstellten. Die örtliche Gestapo hatte die Hinrichtung dann vorzunehmen.

Die Gestapo habe sich die Hände freilich nicht selbst schmutzig gemacht, schnaubt Manfred Messer. "Die Drecksarbeit ließen sie von anderen erledigen: Sie haben zwei Polen mitgenommen, die dann ihren Landsmann aufhängen mussten." Der Henkerslohn: drei Zigaretten für jeden.

"Sie haben alle Zwangsarbeiter zusammengetrommelt, die mussten dann zusehen, als abschreckende Maßnahme", fügt Asmussen hinzu. Die Deutschen sollten davon nichts mitbekommen. So auch im Fall Kaczmarek: Die Hinrichtung erfolgte am Eichhagen, ein Stückchen außerhalb.

Für Peter Asmussen, Manfred Messer und Jürgen Dietze von der Geschichtsgruppe reichen diese Fakten nicht aus. Sie wollen wissen: Wer waren die Mitglieder der Landwache, die den Polen an die Gestapo auslieferten? Wer führte die Exekution durch?

Schon vor Monaten haben sie Kontakt zur Staatsanwaltschaft aufgenommen, damit der Fall Kaczmarek untersucht würde. Die bisherigen Ergebnisse sind laut Oberstaatsanwalt Kazimierski aber dürftig: Weder in Lüneburg noch in Stade oder Hannover sei der Fall Kaczmarek bekannt. "Aller Wahrscheinlichkeit wurde also in diesem Mordfall noch nie ermittelt", so Kazimierski.

Viel Hoffnung, dass die nun gestellte Strafanzeige aber viel bringen wird, hat er nicht. Zwar könne er nun mit mehr Nachdruck ermitteln lassen und auch das Landeskriminalamt einschalten, doch aus früheren, ähnlichen Fällen wisse man: "Die Verantwortlichen der Gestapo Lüneburg sind alle tot." Ohne Täter, der zumindest theoretisch vor Gericht gestellt werden könne, dürfe die Staatsanwaltschaft aber keine Ermittlungsaufträge erteilen: "Ermittlungen nur um der Sache selbst willen gibt das deutsche Recht nicht her, sie müssen sofort eingestellt werden."

Doch - wer ist hier eigentlich Täter? Die Mitglieder der Landwache, die den damals 17-jährigen, verschleppten Zwangsarbeiter verpfiffen? Moralisch sind diese Menschen sicherlich anklagbar - vor Gericht stellen kann man sie deshalb nicht. Vielleicht der damalige Lüdershausener Bürgermeister Otto Rieckmann, der auf der Todesurkunde Kaczmareks als Anzeigender unterschrieben hat und so die Dinge ins Rollen brachte? Auch hier: "Verantwortlicher Täter im Sinne des deutschen Rechts ist er nicht, höchstens Handlanger der Nazis", so Oberstaatsanwalt Kazimierski. Selbst wenn er es wäre: Rieckmann ist schon vor langer Zeit gestorben.

Täter sei derjenige, der die Ermordung angeordnet habe, erklärt Kazimierski. Verfolgt man aber die Befehlskette zurück, landet man bei denjenigen, die einen Hinrichtungsbefehl ausstellen durften: Heinrich Himmler, Gestapo-Müller oder auch Reinhard Heydrich. - Auch diese drei wird man nicht in Lüneburg vor Gericht stellen können.

Bleiben noch die Verantwortlichen vor Ort. Etwa 40 Mitarbeiter hatte die Lüneburger Gestapo-Zentrale, Lüneburg war Gauhauptstadt und damit ein wichtiger Knotenpunkt für die Nazis. Gestapo-Leiter zur fraglichen Zeit sei Regierungsrat Walter Hofmann gewesen, erklärt Manfred Messer - "der hat sich am 13. Mai 1945 in Debstedt mit Gift umgebracht, das ist unbestritten."

Drei große Fragezeichen setze er dagegen hinter den angeblichen Tod von SS-Sturmbannführer August Westermann, Abteilungsleiter der örtlichen Gestapo. Doch selbst wenn Westermann wie von Messer vermutet untergetaucht ist: Er wäre heute 120 Jahre alt. Der Dritte, der des Öfteren auf Hinrichtungsurkunden im Raum Lüneburg auftauche, sei Kriminalkommissar Paul Frank. Auch er kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Messer: "Frank ist am 23.9.1958 verstorben."

Obwohl alle möglichen Tatverdächtigen also tot zu sein scheinen und das Gespräch mit Oberstaatsanwalt Kazimierski ihnen wenig Hoffnung auf eine Klärung des Mordfalls Kaczmarek gemacht hat, will das Trio vom VVN nicht aufgeben. "Vielleicht kommt ja doch noch etwas heraus", hofft Asmussen. Ein Erfolg wäre es für ihn schon, wenn sich die Lüdershausener doch noch entschieden, eine Gedenktafel für Marjan Kaczmarek aufzustellen.

Das habe der Gemeinderat bisher abgelehnt, erklärt Bürgermeister Meyn. Schließlich habe man bereits einen Gedenkstein mit der Inschrift "Denen, die nicht heimkehren" - der schließe alle Nationen ein. Das sieht Peter Asmussen aber ganz anders: "Der Stein wurde für deutsche Soldaten aufgestellt und hat mit den Zwangsarbeitern nicht das Geringste zu tun."

Doch wie man die Sache auch dreht und wendet: Im Grunde geht es Asmussen und Meyn um dasselbe. "Wir dürfen nicht vergessen", sagt Asmussen. Und Meyn fügt an: "Die Ermordung des Marjan Kaczmarek ist für uns Verpflichtung, in ständigen Begegnungen einen dauerhaften Frieden zwischen unseren Völkern zu sichern."