Seniorenheim setzt auf Vögel, Hunde und Pferde zur Begleitung von Demenzkranken

Vögelsen. "Ach, jetzt hab ich die falsche Tasche mitgenommen!" Waltraud von der Ohe kramt in der kleinen schwarzen Handtasche auf ihrem Schoß und ärgert sich. Die Frau mit den weißen Haaren zieht einen Reißverschluss an der Seite auf, dann noch einen. Die Tasche ist leer. "Brauche ich Geld?" fragt sie den jungen Mann, der sich links von ihr hinter das Lenkrad setzt. Sein Name fällt ihr nicht ein. "Nein, Frau von der Ohe. Brauchen Sie nicht." Die 72-Jährige wird unruhig. "Ich weiß nämlich gar nicht, wo das ist." Holger Bruch, 42 und stellvertretender Geschäftsführer des Seniorenhaus Vögelsen, muntert sie auf: "Wir suchen nachher gemeinsam. Jetzt fahren wir erst mal zum Pferd." Frau von der Ohe wundert sich: "Ach, zum Pferd! Ich dachte, wir fahren nach Hause."

Zuhause, das ist für sie noch immer Deutsch Evern, auf der anderen Seite der Stadt. Hier verbrachte sie fast ihr ganzes Leben. Sie legt ihre Hände auf die Ledertasche und schaut gedankenverloren aus dem Fenster. "Ab geht die Post!", ruft Holger Bruch und startet den Motor. Seine Beifahrerin lacht herzlich: "Ab geht die Hilde, die wilde." Waltraud von der Ohe leidet an schwerer Demenz.

Nach vier Minuten erreichen die drei Autos des Seniorenheims den Schotterparkplatz auf dem Hof Gellermann in Dachtmissen. Ringsum stehen Häuser und Scheunen. Als Waltraud von der Ohe aussteigt, erblickt sie vertraute Gesichter. Ihre sechs Mit-Ausflügler kennt sie aus dem Speisesaal. Auch einige jüngere Leute sind ihr bekannt. Die Altenpfleger sorgen seit über einem Jahr für sie.

Noch hundert Meter bis zum Stall. Frau von der Ohe ist vor allen anderen Bewohnern dort, Rollator oder Rollstuhl braucht sie nicht. "Schön warm in der Sonne", stellt sie fest. Während eine Pflegerin den weißen Wallach Silver durch die Stalltür nach draußen führt, setzt sich Waltraud von der Ohe an einen Holztisch hinter einer Gartenpforte, einige Meter weiter. Kaffeekannen aus Kunststoff stehen dort und eine blaue Tupperdose mit frischem Nusskuchen. Zum Pferd will sie noch nicht. Zu viele Menschen, zu viele Stimmen. Eine ältere Frau mit roter Jacke hält dem Wallach Möhren hin, eine andere, mit tiefen Falten im Gesicht, striegelt kräftig und gekonnt sein dichtes Fell.

Waltraud von der Ohe haben es die beiden Golden Retriever angetan. Sie wuseln um den Tisch. "Der sucht seinen Schwanz", bemerkt sie. Eine Pflegerin hält eine Frau im Rollstuhl davon ab, einem der Hunde etwas von ihrem Kaffee abzugeben. Waltraud von der Ohe lacht. "Der braucht doch auch was!", tut sie empört und möchte ein Gespräch beginnen. Die Frau im Rollstuhl reagiert nicht auf ihre Worte.

Waltraud von der Ohe weiß nicht, dass die Hündinnen Cora und Donna wie das Therapiepferd Silver dem Förderverein des Seniorenhauses gehören, dass sie ausgebildet sind für den Umgang mit dementen Menschen. Sie ahnt nicht, dass sie zum Streicheln, Füttern und Zuhören da sind. Erzählte man ihr, dass die Tiere trainiert sind, ruhig zu bleiben, auch wenn jemand an ihrem Fell zieht - sie würde sich wohl fragen, wozu. Sie wüsste nicht, dass das ihretwegen so ist und wegen der Krankheit, an der sie und die meisten ihrer Mitbewohner leiden. Erklärte man es ihr, verstünde sie wohl nicht, dass sich bei Demenzkranken neben der Erinnerung auch die Feinmotorik zurückentwickelt, dass sie, je nach Stadium, leicht zu reizen sind oder sich allein und ausgegrenzt fühlen.

Inzwischen ist Waltraud von der Ohe aufgestanden, unterhält sich in der Nähe des Wallachs mit einer Pflegerin. Dann wagt sie sich ganz an das Pferd heran, streichelt seine Wange, redet ihm zu. "Ach Kinder, ist das Leben schön, ohne ins Büro zu geh'n!", reimt sie. Reiten würde sie auch gerne mal. "Aber mein Kreuz ist kaputt. Und wenn ich runterfalle, bin ich auch kaputt." Auf einmal schaut sie sich suchend um. "Ich weiß gar nicht, wo der Fritze ist..." Fritz, ihr letzter Partner, hat sich vor Jahren von ihr getrennt.

Die Suche bleibt kurz. Etwa eine Minute lang kann Frau von der Ohe sich auf eine Situation konzentrieren, manchmal auch zwei. Die Pfleger und Heimleiter wissen das. Seit sie mit den Hunden und dem Pferd arbeiten, erleben sie, wie ungezwungen die 38 überwiegend demenzkranken Bewohner des Heims auf Tiere reagieren, ihre Nähe genießen. Wie sie ihnen Erinnerungen erzählen, die sie Menschen verschweigen. Überall im Seniorenheim treffen die Bewohner mittlerweile auf Tiere: Wellensittiche, Zebrafinken, Meerschweinchen, Zierfische in einem Aquarium. "Die Bewohner können sich keinen einzigen Namen der Pfleger merken", sagt Petra Reinhardt, die Einrichtungsleiterin. "Aber wenn sie die Hunde sehen, dann wissen sie sofort: Das sind Cora und Donna." Bald will der Förderverein des Seniorenheims einen Besuchshundedienst für die Pflege zuhause einrichten.

Silver, das Pferd, ergänzt den Seniorenheim-Zoo seit einem Jahr. "Die Bewohner erinnern sich teilweise noch Tage später an den Ausflug zur Koppel", erzählt Petra Reinhardt. "Jedes Mal erleben wir Neues, das ist einfach nur schön." Was als Versuch begann, hat sich bewährt und wird nun ausgebaut: Gerade erst ist das zweite ausgebildete Therapiepferd dazugekommen, die Isländer-Stute Fluga. Sie ist trächtig und wirft im Juli, im August sollen Bewohner zum ersten Mal auf Fluga reiten können. Mit Silver geht das nicht. "Mit diesem Projekt betreten wir komplettes Neuland", sagt Bruch und lächelt. "Das gibt es so noch nicht für Demenzkranke."

Auch das Fohlen soll zum Reitpferd für die Bewohner ausgebildet werden. Das Konzept Therapeutisches Reiten für Menschen mit Demenz wurde im Februar vom niedersächsischen Sozialministerium als "Erfolgsmodell" ausgezeichnet. Preisgeld: 10 000 Euro.

Die kann das Seniorenhaus, das sich maßgeblich durch den eigenen Förderverein und Spenden finanziert, gut gebrauchen. Um rentabel zu sein, bräuchte die Einrichtung mindestens 60 Bewohner - über die Hälfte mehr als jetzt. Dabei ist der Platz jetzt schon zu knapp, Dienstbesprechungen finden abends im Speisesaal statt. Petra Reinhardt denkt über einen Anbau in Vögelsen nach, oder über einen Neubau an anderer Stelle. Ein Anwohner beschwerte sich bereits wegen Geruchs- oder Lärmbelästigung. Andere sagten, zu oft führen Leichenwagen durch den Ort. "Sterben gehört zum Leben dazu." Die Leiterin zuckt mit den Achseln. "Das Thema wird ohnehin zu sehr tabuisiert."

Probleme, die für Frau von der Ohe auf ihrem Ausflug weit entfernt sind. Später, zurück im Pflegeheim, kommt sie am Aufzug vorbei. An einer Wand steht: "Das größte Glück ist die Summe kleiner Freuden." Die alte Frau liest den Spruch nicht, er steht dort schließlich immer. Da läuft Cora auf sie zu und will sich von ihr kraulen lassen. Ein Stück Zuhause - egal ob in Deutsch Evern oder Vögelsen. Waltraud von der Ohe lächelt.