Ein neues Buch erzählt vom Erfinder der Systemtheorie Niklas Luhmann und seinem Lüneburger Elternhaus

Am Rande von Lüneburg rollen Bagger über sandige Pfade, die noch auf Asphalt warten. Die meisten Einfamilienhäuser in dem Neubaugebiet im Westen der Stadt stehen schon. Viele Terrassen müssen noch gepflastert werden, Gärten angelegt und Garagen gebaut werden. Vor den Türen in der Niklas-Luhmann-Straße stehen noch Osterdekorationen, Roller und Fahrräder.

Erst 2008 konnte sich die Stadt durchringen eine Straße nach dem zwanzig Jahre zuvor verstorbenen Wissenschaftler zu benennen. In der Liste der Ehrenbürger taucht er nicht auf. Dabei ist der Namensgeber der kleinen Straße ist einer der bedeutendsten Söhne Lüneburgs. Doch nur wenigen Einheimischen und Besuchern ist er bekannt. Das soll ein Buch, das Ende April im Merlin Verlag erscheint, ändern. Unter dem Titel "Backsteingiebel und Systemtheorie. Niklas Luhmann - Wissenschaftler aus Lüneburg" hat die Berliner Journalistin Lilli Nitsche einen Text vorgelegt, der sich mit dem Wissenschaftler und seinem Geburtshaus im Lüneburger Zentrum widmet.

"Allein optisch fällt das ehemalige Brauhaus am Stintmarkt auf. Die Geschichte um die architektonischen Besonderheiten des Gebäudes nimmt einen ähnlich großen Teil ein, wie die Lebensgeschichte Luhmanns", sagt Julia Weis, die das Entstehen des Buches als Lektorin begleitet hat. In ihrer knapp einjährigen Recherche hat Autorin Lilli Nitsche viel Material gesichtet und durchgearbeitet. Dabei ist sie nicht nur in Universitäten und wissenschaftlichen Archiven fündig geworden. Sie hat auch Kontakt zu der Familie gesucht und Luhmanns in Lüneburg lebende Brüder Dietrich und Heinrich Luhmann über ihre Kindheit in der alten Salzstadt befragt.

Wer sich heute für ein geisteswissenschaftliches Studium einschreibt, wird kaum an Niklas Luhmann vorbeikommen. Der Sohn eines Bierbrauers, der am 8. Dezember 1927 in Lüneburg geboren wurde, gilt als Erfinder der Systemtheorie. Den Grundstein zu seiner Karriere als Wissenschaftler legte er als Schüler des Johanneums, an dem er sein Abitur absolvierte. 1944, als das nationalsozialistische Deutschland an mehreren Fronten gegen die Alliierten kämpfte, wurde Luhmann 16-Jähriger als Luftwaffenhelfer eingezogen. Nachdem er 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, immatrikulierte sich der wissbegierige junge Mann an der Juristischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau. Seine Zeit als Referendar führte ihn Anfang der 50er-Jahre nach Lüneburg zu seiner Familie zurück.

In seiner Zeit als Assistent des Präsidenten am Landgericht Lüneburg begann er sich mit Fragen nach dem Organisationsprinzip und der Funktionsweise der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Um den Überblick über die ihm am tragfähigsten erscheinenden Thesen zu behalten, legt Luhmann seine berühmt gewordenen Zettelkästen an, die heute den größten Teil seines Nachlasses ausmachen und von der Universität Bielefeld erworben wurden.

In seiner Geburtsstadt erinnert sich dagegen kaum jemand an ihn. Das zumindest ist die Erfahrung von Adelheid Person. Die 71-Jährige lüftet seit mehr als 20 Jahren als Stadtführerin täglich Geheimnisse über historische Gebäude der Hansestadt und Persönlichkeiten, die es im Laufe ihres Lebens an die Ilmenau verschlagen hat. "Ich hatte mal eine Gruppe Philosophen, denen habe ich gezeigt, in welchem Haus Luhmann aufgewachsen ist, aber der Namen sagte ihnen gar nichts."

Viele Besucher interessieren sich eher für den Heidedichter Hermann Löns. "Dabei stammt der gar nicht von hier", sagt Adelheid Person. Auch Johann Sebastian Bach, der seinen Schulabschluss in Lüneburg absolviert hat oder Heinrich Heine, der mit seiner Familie einige Monate in der Stadt lebte, seien vielen Einheimischen und Touristen ein Begriff.

Sogar Besucher aus dem Ausland kennen die Namen der deutschen Komponisten und Dichter, sagt Adelheid Person gemacht. "Ich mache auch spezielle Führungen in französischer Sprache, aber Wissenschaftler kennen meist nur Eingeweihte." Schade finde sie es, dass der Jurist, Philosoph und Gesellschaftstheoretiker so wenig bekannt sei, denn aus ihrer Sicht er habe es sicherlich verdient. Die Realität sei jedoch, dass seine Werke die Mitbürger überhaupt nicht tangierten.

Der Soziologe hat in den 60er-Jahren mit seiner Theorie der Sozialen Systeme in der Wissenschaftswelt für Furore gesorgt. Vereinfacht gesagt geht Luhmann davon aus, die Gesellschaft sei ein System, das durch Kommunikation mit kleinen Subsystemen verbunden sei und im Austausch mit ihnen steht. Je nachdem wie die Subsysteme strukturiert sind, Luhmann nennt beispielhaft das Rechtssystem, das politisches System eines Landes oder die Wirtschaft, sehen ihre Codes aus, also Vorschriften, die in diesem Systemen gelten. Während er seine Studien im Laufe der 60er-Jahre vertiefte und bei einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University mit dem amerikanischen Forscher Talcott Parsons zusammentraf, ließ sich der Verwaltungsbeamte vom Landgericht Lüneburg beurlauben. Dann zog es ihn am verschiedene Universitäten in Deutschland: Er promovierte und habilitierte sich in Münster und wurde als erster Professor 1968 an die Universität Bielefeld berufen. Dort baute er die erste soziologische Fakultät im deutschsprachigen Raum auf und lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1993.

Lilli Nitsche: Backsteingiebel und Systemtheorie Nexus Lüneburg, 56 bebilderte Seiten, Merlin Verlag, 9,80 Euro www.merlin-verlag.de