Udo Weise verliert durch eine Krankheit sein Augenlicht und kämpft sich als Masseur ins Leben zurück

Heber. Das Unheil kündigt sich ohne Vorwarnung an. Verkehrsschilder verschwimmen, Buchstaben sind nicht mehr zu lesen. Am Ende erscheint alles nur noch hell oder dunkel, ohne Kontur. Die so genannte Lebersche Optikusatrophie, eine erblich bedingte Erkrankung der Sehnerven, sucht Udo Weise mit einer selbst für die Krankheit seltenen Brutalität heim. Innerhalb von 48 Stunden degenerieren im August 1988 bei dem damals 25 Jahre alten Lkw-Fahrer aus Heber im Landkreis Soltau-Fallingbostel die Sehnervenfasern. Er erblindet. Der Schaden ist irreparabel.

"Das war damals natürlich ein schwerer Schock", sagt Udo Weise. Plötzlich war nichts mehr wie früher für ihn und seine Frau Birgit. Vier Monate zuvor hatten die beiden geheiratet. "Wenigstens habe ich Birgit noch in ihrem Brautkleid gesehen."

Gesprächsort ist ein kleines Zimmer im Obergeschoss ihres Einfamilienhauses. Ein knapp zehn Quadratmeter großer Raum, der die ungewöhnliche Lebensgeschichte der beiden auch ohne viele Worte symbolisiert. Hier unter dem Dachstuhl arbeitet der 47-Jährige trotz seiner Erblindung als selbstständiger Masseur. 2011 existiert seine kleine Praxis zehn Jahre.

Zusätzlich zum "Kneten" wickelt er über einen Computer mit Sprachausgabe auch die Büroarbeit samt Terminkoordination ab. Seine Armbanduhr am Handgelenk nennt im stündlich die Zeit zur Orientierung. "Udo macht fast alles alleine", sagt Birgit Weise und ein wenig Stolz schwingt mit in ihrer Stimme. "Ohne die Unterstützung und Liebe von meiner Frau hätte ich das alles gar nicht geschafft", entgegnet Udo Weise.

Vor allem die Anfangsjahre nach der Erblindung stellen das Ehepaar vor harte Proben. Zukunftsangst, Selbstzweifel und viele falsche Hoffnungen auf eine Gesundung prägen die Zeit. "Die Krankheit war damals nahezu unerforscht", sagt die 51-Jährige. Sie und ihr Mann investieren nach der in der Uni-Klinik Hannover gestellten Diagnose auf Lebersche Optikusatrophie viel Zeit auf der Suche "nach Zuversicht", konsultieren weitere Ärzte und suchen Heilpraktiker auf. Parallel dazu gibt sie ihre Arbeit auf. Sie will für ihren Mann da sein. "Alle machten uns Hoffnung, und wir haben eine Menge Geld für Sachen gezahlt, die nichts geholfen haben."

Erst nach der eindeutigen Aussage eines Augenarztes in Bergen ("Ihre Sehnerven sind tot. Und was tot ist, kann man nicht mehr lebendig machen.") finden sich die beiden damit ab. "Danach wurde Udo ruhiger", sagt Birgit Weise. "Vorher sind bei uns schon mal die Fetzen geflogen." Zum Beispiel, wenn sie Salz und Zucker nicht an die richtige, abgesprochene Stelle stellte, der Kaffee dementsprechend schmeckte. Doch die beiden finden immer wieder zueinander. "Ich musste auch erst einmal lernen, dass alles seinen festen Platz haben musste und nichts mehr herumliegen darf." Dementsprechend aufgeräumt sieht es heute bei den Weises aus.

"Ich habe lange gebraucht, um die Behinderung und die Folgen zu akzeptieren", sagt der 47-Jährige. Wer ihm gegenübersitzt, der erkennt die Erblindung nicht gleich. Er trägt keine schwarze Brille. Eine Linsentrübung gibt es nicht. Seine braunen Augen wirken normal und gesund. "Das sind sie auch, aber eben die Sehnerven nicht, die sind tot", sagt der 47-Jährige. Für den Außenstehenden sieht es allerdings so aus, als ob er an dem, was er anschauen möchte, "vorbeiblickt".

Wut, Frust und Enttäuschung über die Behinderung weichen in dem Moment, als Udo Weise in Hannover 1990 eine Grundausbildung für Blinde absolviert. Er erhält während dieser Zeit "Einblicke" in die Arbeit als Masseur und fängt Feuer für diesen Beruf. "Er wollte das, ich war davon nicht überzeugt", sagt Birgit Weise und ergänzt lachend: "Für mich war Udo eher ein Grobmotoriker." Doch ihr Mann beweist einen unbändigen Willen. Nach Beendigung des Grundjahres meldet sich Udo Weise in Mainz zur Fachausbildung zum Masseur und medizinischen Bademeister an. Doch seine immer wieder auftretenden Gleichgewichtsstörungen stehen einer Zulassung im Wege. Die erhält er erst nach der Vorlage von zwei ärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigungen.

Fortan bringt Birgit Weise ihren Mann ein Jahr lang für die von Montag bis Freitag stattfindende Ausbildung am Sonntagabend von Heber mit dem Auto nach Hannover. Von dort aus reist er allein mit dem Zug über Frankfurt und Wiesbaden nach Mainz. Das Umsteigen in der Mainmetropole bewältigt er ebenso zielgerichtet und sicher wie die Fahrt vom Mainzer Bahnhof aus mit dem Bus zur Schule in die Stadt. Birgit Weise selbst beginnt nach drei Jahren Pause wieder zu arbeiten als Bürokraft.

"Ich habe mich fast nie verlaufen oder mein Abteil nicht gefunden", sagt Udo Weise. "Du musst dir eben alles merken, einprägen und vor allem andere Mitreisende fragen." Das ist für einen Menschen, der zuvor sehen konnte, viel schwieriger als für eine von Geburt an blinde Person. Udo Weise merkt aber, wie sich seine verbliebenen Sinne Hören, Riechen, Schmecken und Tasten schärfen. Er lernt auch die Blindenschrift - und stößt hier auf Probleme. Die durch seine vorherige langjährige Tätigkeit als Kfz-Mechaniker abgenutzten Fingerspitzen können die in einem speziellen Muster aus Punkten zugeordneten Buchstaben nicht erfühlen.

Für ihn bedeutet die Ausbildung in der Ferne trotz wachsendem Optimismus "Stress pur". Der weicht erst, als er sein Staatsexamen mit der Note 2 ablegt. Das notwendige Anerkennungsjahr leistet er 1992 in der Nähe seines Wohnortes in der Endo-Klinik in Wintermoor bei Schneverdingen. Seine Fähigkeiten sprechen sich schnell herum. Viele Personen wollten nur von dem "blinden Masseur" behandelt werden.

Dankesschreiben von Patienten nach der Behandlung bezeugen die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Udo Weise. Der muss sich - gesetzlich vorgeschrieben - nach einem Jahr einen neuen Platz suchen. Bei der Massagepraxis Adolf Möller in Schneverdingen arbeitet er ein halbes Jahr. Er erhält seinen Meisterbrief und wird wieder in der Endo-Klinik bis zu ihrer Schließung 1997 angestellt. Während dieser Zeit absolviert er eine Ausbildung zur manuellen Lymphdrainage.

Nach etlichen Bewerbungen und Absagen, "weil Behinderte schwerer zu kündigen sind", stellt ihn 1998 eine Massagepraxis in Schneverdingen ein. Im Jahr 2000 ist aber auch hier nach Geschäftsaufgabe Schluss. Ein neuer Job ist nicht in Sicht. Udo Weise riskiert mit der Unterstützung seiner Frau 2001 den Sprung in die Selbstständigkeit - nur auf privater Basis, ohne Krankenkassenzulassung. Die bekommen sie nicht, weil sie die erforderlichen Räume nicht vorweisen können.

Das spielt aber bald keine Rolle mehr. Nach schleppendem Beginn kommen immer mehr Patienten zu dem Heidjer. Udo Weise macht sich einen hervorragenden Namen in der Region. Mittlerweile behandelt er auf einer Massagebank zwischen 40 bis 50 Patienten in der Woche. Die meisten sind Stammkunden, kommen auch aus Hamburg oder Lüneburg.

"Für mich ist Udo fast schon ein Wunderheiler", sagt Regina Meyer. Sie ist heute zur vorbeugenden Rückenmassage vorbeigekommen. Sie schwärmt von den Masseurkünsten des 47-Jährigen. "Meine langwierigen Probleme und Schmerzen durch einen Tennisarm hat er innerhalb weniger Sitzungen behoben." Auch gefällt ihr, dass es keine Wartezeiten oder ein Wartezimmer gibt. Und lachend erwähnt sie noch einen anderen von einer Freundin geäußerten "Vorteil": "Du musst Dir als Frau keine Gedanken machen, welche Unterwäsche du zur Massage anziehst." Über solche "Probleme" können Udo und Birgit Weise nur schmunzeln