Senal und ihre Schwestern tun alles, um 2011 Asyl für die Mutter und sich zu bekommen

Winsen. Sie stehen im Flur und lächeln. Senal Bozyigit streckt mir die Hand entgegen. Die braunen Haare hat sie locker zum Zopf gebunden. Zuhause trägt die 19 Jahre alte Kurdin kein Kopftuch. Sie wirkt zerbrechlich, zart. Das täuscht. Zusammen mit ihrer Schwester Ömmöhan, 18, versorgt sie die sechsköpfige Familie. Ihr Vater wurde 2007 in die Türkei abgeschoben, ihre Mutter ist psychisch krank, depressiv, so sehr, dass nicht einmal ihre Kinder zu ihr durchdringen.

Ende Mai haben wir Senal, Ömmöhan, Sömöyye, 17, Berat, 13 und Nesren, 7, zum ersten Mal besucht. Damals drohte der Familie die Abschiebung in die Türkei, ihrer Mutter Songül, einer kurdischen Aktivistin, in der Heimat Gefängnis und den drei ältesten Töchtern die Zwangsehe, so erzählte uns Senal ihre Geschichte. Seit dem ist viel passiert: Es wurde ein ärztliches Gutachten über den Gesundheitszustand der Mutter erstellt, der Abschiebetermin verstrich und aus der einmonatigen Duldung in Deutschland wurde eine sechsmonatige. Zeit zum Aufatmen und dafür, das unter Beweis stellen zu können, was die Behörden den "Willen zur Integrationen" nennt. "Wir sind so erleichtert", sagt Senal und streicht ihrer kleinen Schwester Nesren über das schwarze Haar.

Rückblick: Im September 2002 landete die heute 38 Jahre alte Songül Bozyigit mit ihrem jüngsten Sohn Berat auf dem Flughafen Hannover. Schlepper besorgten ihr ein Visum, Reisepässe. 3000 Euro kostete das erkaufte neue Leben. Ihre Töchter Senal, Ömmöhan und Sömöyye folgten. Die Familie wurde in einem Ausländerwohnheim in Meckelfeld untergebracht. Dort kam ihre jüngste Tochter Nesren zur Welt. Später bekamen sie eine 72-Quadratmeter-Wohnung im Albert-Schweitzer-Viertel in Winsen. Im Dezember 2002 stellte die Familie einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Braunschweig.

Fast drei Stunden dauerte die Anhörung, in der Songül Bozyigit über ihre Aktivitäten für die PKK und der PKK nahe stehenden DEP, der "Partei der Demokratie des Volkes", von Verhaftungen und Folter berichtete. Eine ergreifende Geschichte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge glaubte sie nicht. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, Abschiebung drohte.

Mehrfach klagte die Familie auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens. Aufgrund von Widersprüchen in der Aussage der fünffachen Mutter, lehnte das Verwaltungsgericht Lüneburg den Antrag jedoch ab. "Immer wieder kämpfen, klagen, hoffen, das hat meine Mutter psychisch krank gemacht", sagt Senal traurig. Auch die ältesten Töchter begleitete die Angst vor einem Leben in der Türkei jeden Tag, ließ sie nachts nicht schlafen. Den eigenen Cousin heiraten - für die junge Frau schlicht unvorstellbar.

Wer heute in die Gesichter der Mädchen schaut, erkennt schnell: Die Angst ist der Hoffnung gewichen und dem Willen, es in Deutschland zu schaffen. Die Auflagen des Landkreises: Die volljährigen Töchter müssen zum Lebensunterhalt der Familie maßgeblich beitragen, dafür haben Ömmöhan und Senal eine Arbeitserlaubnis bekommen. Auch die Klärung ihrer Identität gehört zu ihren Pflichten. "Dafür mussten wir für alle Reisepässe beim türkischen Konsulat in Hannover beantragen. Die legen wir dann der Ausländerbehörde des Landkreises Harburg vor", sagt Senal - im Januar hofft sie die Papiere in Hannover abholen zu können.

Vormittags Schule, nachmittags putzen, kochen, einkaufen, Hausaufgaben, die Kleinen zum Arzt begleiten. An drei Nachmittagen pro Woche arbeiten Senal und Ömmöhan bei der Logistik-Firma Trost-KSM, ein Lagerjob. "Das geht schon", sagt Senal. Den Eindruck vermitteln, es nicht zu schaffen - das möchte sie auf keinen Fall.

Unterstützung bekommt die Familie vom Jugendamt des Kreises. Die Behörde hat die Vormundschaft für Nesren, Berat und Sömöyye übernommen und hat Durna Amir von der Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Harburg Land, als sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzt. Ihre Aufgabe: "Die Familie wünscht sich ein Stück Normalität - darin versuche ich sie zu unterstützen", so Durna Amir.

Zweimal die Woche ist sie in der Einsteinstraße zu Besuch, schaut, wie es den Kindern geht, ob Arzttermine oder Behördengänge anstehen, stellte den Kontakt zum Mieterverein her. "Schimmel, die Steckdosen funktionieren nicht, das Laminat löst sich auf, die Wohnung ist in einem schlechten Zustand", so die Sozialpädagogin. Mit ihren 24 Jahren ist sie kaum älter als Senal und Ömmöhan und für die Mädchen ein Vorbild, fast wie eine große Schwester. Senals Traum: Auch Sozialpädagogik studieren und in einer Ausländerbehörde arbeiten - und vieles besser manchen, als sie es heute in ihrem Leben erlebt.

Eine weitere Aufgabe von Durna Amir: Darauf achten, dass sich die Mädchen mit ihren Aufgaben nicht übernehmen. "Ich halte es für wichtig, dass alle einen guten Schulabschluss machen und eine Lehrstelle finden", so die Familienhelferin.

Sie versucht Fördergelder zu akquirieren, um den Kindern eine professionelle Hausaufgabenhilfe zu ermöglichen. Im Pro-Aktiv-Center des sozialen Vereins Reso-Fabrik in Winsen sollen die Mädchen fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden. Senal hat schon Bewerbungen losgeschickt. Auch Ömmöhan beendet im nächsten Jahr die Hauptschule: Arzthelferin, Einzelhandelskauffrau, das können sich die beiden vorstellen. Ihr Ziel: selbstbestimmt leben zu können und zwar in Deutschland. "Ich bin beeindruckt, wie motiviert und willensstark die Mädchen sind", sagt Durna Amir. Was sie sich für 2011 wünschen? "Vor allem Gesundheit", sagt Senal.