Ausgrabungen des Helms-Museums auf einer Weide bei Daerstorf beleuchten die Zeit vor der Christianisierung

Daerstorf. - Unter einem Kuppeldach arbeiten die Forscher mit feinsten Werkzeugen, legen Millimeter um Millimeter die Relikte der Vergangenheit frei. Nur dunkle Schatten im sandigen Boden zeugen noch davon, dass hier einst Tote begraben wurden, doch der eigentliche Sensationsfund liegt ein paar Meter weiter. Ein fast vollständig erhaltenes Pferdeskelett beleuchtet die Glaubenswelt unserer Ahnen.

Auf einer Weide bei Daerstorf sind Archäologen des Harburger Helms-Museums seit 2006 dabei, ein Gräberfeld der alten Sachsen zu untersuchen. Den jüngsten Fund präsentierten die Forscher gestern: Ein in dieser Form bisher einmaliges Pferdegrab aus der Zeit vor gut 1200 Jahren. Weisen die Gräber der verstorbenen Bewohner der benachbarten Sachsensiedlung auf den Wandel vom alten Götterglauben zum Christentum hin, so entstammt das tote Pferd der Zeit vor der Christianisierung.

Für den Kreisarchäologen Dr. Jochen Brandt, der die Ausgrabungen leitet, gibt es zwei mögliche Erklärungen für die Beisetzung eines Pferdes auf dem Gräberfeld: Zum einen könnte das Tier die Grabbeigabe eines privilegierten Bewohners gewesen sein, doch die Alternative erscheint weitaus wahrscheinlicher. Laut Dr. Brandt weist vieles darauf hin, dass die Beisetzung des Pferdes Teil eines Opferritus war. Ein solcher vorchristlicher religiöser Akt sei dann wahrscheinlich im Kontext der nordischen Götterwelt zu sehen, wo der Hauptgott Odin/Wotan auf dem achtbeinigen Ross Sleipnir ritt.

Pferdegräber finden sich zwar selten, aber doch gelegentlich auf sächsischen Friedhöfen. Dr. Brandt hält weitere derartige Funde für möglich: "Eines wissen wir von anderen Gräberfeldern aus dieser Zeit. Ein Pferd kommt selten allein." Bei Daerstorf war bereits 2007 ein Pferdeschädel entdeckt worden.

Diesmal fanden die Archäologen neben dem Pferd Spuren eines Gefäßes aus Holz, offensichtlich als Grabbeigabe für das Tier - so etwas gebe es sonst gar nicht, wies Dr. Brandt auf die Besonderheit des Fundes hin. Dass das vor kurzem gefundene Ross ein Hengst war, lässt sich noch heute anhand des Gebisses feststellen.

Nicht mehr erhalten sind die Rippen des Pferdes - nicht ausgeschlossen, dass sie vor der Beerdigung entnommen wurden und mit dem daran befindlichen Fleisch den Menschen als Nahrung dienten. Die meisten Knochen sind aber erstaunlich gut erhalten, während von den nebenan begrabenen Menschen in der Regel nicht viel mehr als eine dunkle Verfärbung im Boden übrig ist.

Dieser "Leichenschatten" lässt noch heute einzelne Knochen erkennen, vor allem die Unterschenkel sind meist zu sehen, doch überwiegend sind die Gebeine im sandigen Boden ebenso wenig erhalten geblieben wie das Textilmaterial der Bekleidung oder das Holz der Särge. Dr. Brandt: "Es bleibt so gut wie nichts mehr übrig."

Rund 300 Gräber sind seit 2006 zwischen Daerstorf und Elstorf entdeckt worden. Wurden die Verstorbenen hier zuvor noch verbrannt, so ist um das 7. bis 8. Jahrhundert ein Wandel zu erkennen. In dieser Zeit wurden die Leichen dann unverbrannt beerdigt. Die Gräber wurden anfangs in Süd-Nord-Richtung angelegt, später dann in der Folge der erzwungenen Christianisierung durch die fränkische Eroberung in Ost-West-Richtung.

Grabbeigaben zeigen, dass die Menschen auch für das Leben im Jenseits gerüstet sein sollten. Hier zeigt sich allerdings ein Geschlechterunterschied: Wesentlich mehr Frauen als Männer erhielten Grabbeigaben. So gaben die Hinterbliebenen den Sächsinnen bis zu 300 farbige Glasperlen als Schmuck mit ins Grab, Männer bekamen meist Waffen wie das kleine Messer aus Eisen, das die Forscher fanden.

Ein anderes Grab dürfte ein Schwert enthalten, ebenfalls freigelegt wurden eiserne Gürtelschnallen und Fibeln, die Vorläufer der heutigen Sicherheitsklammern. Ein Kindergrab wurde auffällig mit Steinen markiert.

Die Funde sollen restauriert und künftig in Form einer Ausstellung - ob zeitlich begrenzt oder als Dauerschau - der Öffentlichkeit präsentiert werden, kündigte Prof. Dr. Rainer-Maria Weiss, der Direktor des Helms-Museums, an. Das Gräberfeld in Kombination mit der nahe gelegenen Siedlung sei eine "einzigartige Situation" - die Funde dürften seiner Meinung nach "bundesweit Beachtung finden".

Beachtlich ist hier auch, dass viele jungzeitliche Relikte, Scherben und Feuersteinobjekte, überall auf der Fläche gefunden wurden - Indiz dafür, dass hier einst ein Großsteingrab stand. Viele dieser Gräber wurden im 18. und 19. Jahrhundert abgetragen, die großen Steine wurden zu Straßenschotter zerschlagen oder als Fundamentsteine verwendet.

Die Nähe der sächsischen Beerdigungsstätte zum weitaus älteren Steinzeitgrab sei allerdings kein Zufall, die Sachsen hätten häufiger ihre Friedhöfe bei älteren Gräbern angelegt, erläuterte Kreisarchäologe Brandt.

Dr. Weiss sprach von einer "Luxusgrabung", für die heute häufig weder Zeit noch Geld übrig seien. Gerufen würden die Archäologen meistens dann, wenn Zufallsfunde Notgrabungen erforderlich machten - mit dem Bauern oder dem Investor als Grundstückseigentümer im Rücken, die zur Eile drängten.

Gegraben wird hier drei bis vier Monate pro Jahr, mit dabei sind in Daerstorf Freiwillige, ehrenamtliche Helfer und Studenten der Universität Hamburg. "Zwei bis drei Doktorarbeiten" könnten aus diesen Grabungen resultieren, schätzt Archäologe Jochen Brandt. Doch zuvor bewegt sich das Grabungsteam ein Stück weiter, in Kürze wird das Feld wieder zugekippt und neu eingesät. Demnächst dürften dann wieder Pferde dort weiden, wo vor 1200 Jahren ihr Artgenosse in einem geheimnisvollen Ritus den alten Göttern geopfert wurde.