Die letzten Bewohner mussten gestern das einsturzgefährdete Haus verlassen. Die Stadt bemüht sich nun weiter um mögliche Alternativen.

Lüneburg. Kein Leben ist mehr in dem Gründerzeitbau an der Frommestraße 5. Seit gestern Morgen sind die Türen vernagelt, hinter toten Fensterscheiben ist nur noch dunkles Nichts zu sehen. Niemand wohnt mehr in dem weiß-gelben Prachtbau, der laut Statikgutachten einsturzgefährdet ist. Und seit gestern leblos.

Am Morgen gegen 8 Uhr. Die Stadtverwaltung ist mit vielen bekannten Gesichtern vor Ort, Oberbürgermeister, Stadtbaurätin, Rechtsdezernent, Ordnungsamtsleiter und ihre jeweiligen Mitarbeiter. Die ersten ehemaligen Mieter stehen oder sitzen schon auf der Straße, die letzten gehen erst mit den Polizeibeamten heraus aus ihren Wohnungen. Ohne Protest, ohne Ärger. Die Wut, wenn sie welche haben, lassen sie im Bauch.

"Tag des offenen Denkmals" haben die jungen Leute auf ein Pappschild geschrieben und es an den Zaun gelehnt. Und: "Aber ich bin doch sanierfähig." Ein junger Mann lässt vom Nachbarhaus Nummer 4 aus Musik über die Straße schallen, lädt die Leute unten zum "View Public" ein und warnt sie ironisch, "bitte nicht so aggressiv herumzustehen".

Drei junge Frauen haben sich auf den Asphalt gesetzt, streichen sich über den Rücken. Gesten des Trosts in Stunden der Traurigkeit. Es herrscht Schweigen vor dem ehemaligen Zuhause von rund 25 Menschen, sie rufen nichts, sie singen nichts, sie reden nicht. Nicht einmal miteinander. Sie sehen sich nur an. Mit Tränen in den Augen.

Der Kommentator von nebenan spielt das nächste Lied, und ohne den Gesang vom Band würde bleierne Stille herrschen an diesem Morgen im Park, denn zum Unterhalten ist in diesem Augenblick niemandem zumute, auch den Leuten von der Stadtverwaltung nicht.

Drinnen greifen die übrig gebliebenen Bewohner ihre Siebensachen zusammen, die meisten sind schon in den vergangenen Tagen ausgezogen, einer hatte sich für die letzte Nacht im alten Zuhause ein Zelt im Zimmer aufgebaut. Mit leerem Blick kommen sie aus der Tür, vorbei an den Polizisten, stellen Kisten, Decken und Taschen ab, und bleiben. Im Park gegenüber, auf der Straße, dem Fußweg, bei den Garagen nebenan. Sie sehen zu, wie ein Umzugswagen vorfährt, wie Männer das Haus ausräumen, wie andere Männer Fenster mit Spanplatten zunageln und Türen dicht machen. Sie selbst hatten am Vortag ihre Türen in den Keller gebracht, wollten zeigen: Wir sind offen, wir lassen jeden hinein.

Das geht jetzt nicht mehr, das Haus Frommestraße 5 ist geschlossen.

Pastor Eckhard Oldenburg von St. Nicolai begleitet den ältesten Bewohner des Hauses zum Auto, in der Hand Plastiktüten mit seinen übrig gebliebenen Kleinigkeiten, die nicht schon Tage vorher weggebracht worden sind. Der Mann hatte Jahrzehnte in der Frommestraße 5 gelebt, ist 85 Jahre alt. Ein Mitarbeiter der Verwaltung bringt ihn in die Notunterkunft der Stadt an der Dahlenburger Landstraße.

Pastor Oldenburg bleibt. "Es herrscht große Traurigkeit, die aber nicht in Aggression umschlägt", sagt er, als die Menschen langsam wieder anfangen zu sprechen. "Die jungen Leute sind friedlich und freundlich. Für die Betroffenen ist das ein Abschied nicht nur von den eigenen vier Wänden, sondern auch von einer Lebensform. Ich glaube, dass solche Räume in Lüneburg gebraucht werden, das zeigt sich hier. Dafür sollte es Toleranz und Verständnis geben."

Katalin Kuse wird die nächsten Nächte wahrscheinlich im Auto schlafen. Eine feste Bleibe hat die Studentin noch nicht. Gemeinsam mit einigen ihrer ehemaligen Nachbarn treibt sie die Idee eines generationenübergreifenden Wohnprojekts voran. "Wir wären bereit, das Anna-Vogeley-Heim zu sanieren und Miete zu bezahlen. Wir würden uns einen gemeinsamen Gesprächstermin mit der Stadt und dem Eigentümer wünschen, Austausch und Transparenz."

Ihr sei eine Ein-Zimmer-Wohnung am Stadtrand angeboten worden, so möchte die 21-Jährige aber nicht leben. "Es ist schwierig, in Lüneburg bezahlbaren Wohnraum zu finden, besonders für Wohngemeinschaften. "Für uns ist das Leben zusammen bereichernd, wir helfen uns gegenseitig und wohnen nicht isoliert. Das ist eine zeitgemäße Alternative zur Kleinfamilie."

Sarah Holzgreve hat gemeinsam mit drei Mitbewohnern eine neue Wohnung gefunden, "wir hatten Riesenglück". Langfristig sieht sich aber auch die 21-Jährige in einem größeren Wohnprojekt anstatt in einer Vierer-Wohngemeinschaft. "Ich habe mich hier gleich zu Hause gefühlt und gehofft, ich könnte länger bleiben. Und nebenan wird den Mietern gekündigt, weil sich Sanierung nicht mehr lohnt? Es geht hier um unser Recht auf Stadt."

"Fromme bleibt", skandieren einige dann auch, als der Moderator zwischen der Musik sie dazu animiert. Bleiben wird Jens Markgraf vermutlich nicht. Der 37-Jährige war der Letzte, der das Haus verließ. "Ich hatte gedacht, es gäbe eine Art Karenzzeit. Wohin ich jetzt gehe? Gute Frage. Wohl aufs Sofa, zu Freunden. Und langfristig muss ich wahrscheinlich zurück nach Hause, nach Berlin." Noch mal im Fromme-Park zu zelten wie im vergangenen Jahr nach dem Abriss des leer stehenden, besetzten Einfamilienhauses Nummer 2 will er jedenfalls nicht, sagt er.

Für einen Abend und eine Nacht haben Freunde der Fromme-Bewohner gestern auf dem Marktplatz eine Bleibe geschaffen. "Wir bauen ihnen mit Möbeln symbolisch den Raum, den ihnen die Stadt nicht geboten hat", sagt Mit-Initiatorin Svea Blieffert, 23. Die Studentin sagt: "Es stecken viel mehr Menschen dahinter als die Bewohner selbst. Es geht um alternative Wohnformen. Hier geht ein Ort verloren, und es gibt keinen Ersatz."

Der könnte allerdings noch kommen. Von "konstruktiven Gesprächen" spricht die Stadtverwaltung, die derzeit mit Ex-Frommestraßen-Bewohnern geführt werden. Das Thema: ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt in Lüneburg. Ein möglicher Trägerverein ist bereits gegründet, jetzt fehlt nur noch ein Ort.