Lüneburgs Ratsmitglieder werden zum Hansetag 2012 in zwei Monaten in historischen spätgotischen Gewändern durch die Stadt laufen.

Lüneburg. Als Rotraut Kahle 2005 beim internationalen Hansetag in Tartu (Estland) war, kam ihr eine Idee: Beim Hansetag 2012 in Lüneburg sollten 100 Menschen in spätgotischen Kostümen durch die Straßen laufen. Zwei Monate vor dem großen Fest ist Kahle ihrer Vision sehr nah: Schneiderinnen im "Zeughaus" haben für jedes Ratsmitglied Mantel und Kopfdeckung nach ihrer Vorlage genäht.

Seit vielen Jahren fertigt Kahle Kostüme nach historischem Vorbild an, für ihr Hansetags-Vorhaben hat die pensionierte Lehrerin sich zwei verschiedene Quellen ganz genau angeguckt: vier sogenannte Funhofsche Tafeln aus der St.-Johanniskirche sowie vier Fenster aus der Bürgermeisterkörkammer. Die Originalbild-Vorlagen nutzte die passionierte Hobby-Schneiderin, um relativ leicht zu nähende Schnitte zu entwickeln.

"Es geht um Kleidung aus dem Jahr 1480", erzählt Rotraut Kahle. "Also vor der Renaissance. Für die Ratsleute habe ich eine Schaube und ein Barett entwickelt: einen bodenlangen Mantel und eine Kopfbedeckung." Dass der Mantel aus Wollstoff wirklich bis zum Boden reichte, ist im Ratsarchiv belegt, hat Kahle recherchiert.

Ihr Prototyp ist ein Mantel für einen 1,80 Meter großen Mann, für die endgültigen Schauben jedoch hat sie jedes einzelne Ratsmitglied vermessen. Die nötigen 168 Meter Walkloden hat Kahle bereits im vergangenen Sommer gekauft, wählen durften die Ratsmitglieder aus den Farben dunkelblau, dunkelgrün und moosgrün. Selbst genäht hat Rotraut die Barette, für die Schauben hat die engagierte Frau andere Frauen zu Hilfe geholt: die Schneiderinnen aus dem sozialen Kaufhaus "Zeughaus" in der Katzenstraße.

Es war nicht der erste Auftrag im Zeichen des Hansetags für die Damen: Für das Klostercafé haben sie bereits 20 Kleider des zweiten und dritten Standes aus der Spätgotik geschneidert."Das hat so toll geklappt, dass ich sie für die Ratsmäntel wieder gefragt habe", erzählt Kahle. Und in der Nähwerkstatt des Zeughauses traf sie auf strahlende Gesichter. Angelika Reichmann und Alla Gorbunow arbeiten dort, ihre Anleiterin ist Elisabeth Sieniuto.

"Beim ersten Mantel habe ich noch geflucht, beim zweiten ging es schon, und ab dem dritten lief alles reibungslos", erzählt Reichmann lachend. Gemeinsam mit Alla Gorbunow hat sie 42 blaue und grüne Mäntel genäht.

"Das hat viel Spaß gebracht", sagt Reichmann, die einige Jahre beim Lüneburger Strickwarenhersteller "Lucia" gearbeitet hatte.

Anleiterin Elisabeth Sieniuto ist stolz auf ihre Mitarbeiterinnen: "Ich bin glücklich, das hat alles wunderbar funktioniert, und ohne die beiden wäre das nicht so gewesen." Auch Auftraggeberin Rotraut Kahle ist froh, wie gut alles geklappt hat: "Alle haben super mitgedacht. Das lief wie am Schnürchen." Im Januar hatten die Frauen angefangen, jetzt sind sie bis auf ein paar letzte Stiche fertig mit der Ausstattung des Rates. "Man merkt richtig, wie sich die Menschen aufrichten, wenn sie den Mantel und das Barett anziehen", sagt Sieniuto. "Die Damen und Herren stehen sofort viel gerader als vorher. Da ist ein toller Effekt."

Das bestätigt Ernst Bögershausen, Mitglied der Grünen im Rat. "Die Kleidung verändert das Gefühl. Sie macht ein wenig erhaben, ich bewege mich viel gelassener und nicht so hektisch wie in meiner Lederjacke. Meine ganze Körperhaltung ist eine andere." Seit November ist Bögershausen Abgeordneter des Gremiums, er findet es "richtig, dass wir uns zu den Hansetagen angemessen kleiden". Auch Hiltrud Lotze von der SPD ist begeistert von der Initiative Kahles und der Arbeit der Zeughaus-Damen: "Wir freuen uns darüber riesig. Das ist toll, wir werden ein gutes Bild abgeben."

Sich aufrichten werden bei den Hansetagen nicht nur die Träger der Kostüme, sondern auch ihre Schneiderinnen. "Wir sind stolz, wenn wir die Mäntel auf der Straße sehen", sagt Elisabeth Sieniuto. Der nächste Auftrag wartet übrigens bereits: 50 blau-violette Schals für die Diakonie sollen entstehen - ebenfalls für die Hansetage. Und danach stehen Kleider für Stadtführer auf der Liste.

Aufträge von Privatleuten kann die Nähkammer des Zeughauses derweil nicht annehmen. Cornelia Steinbeck, Betriebsleiterin des Trägers Jobsozial, erklärt: "Die Arbeit wird vom Jobcenter bezahlt. Erlaubt ist das nur als zusätzliches, gemeinnütziges, wettbewerbsneutrales Projekt." Wie spätgotische Schauben für Ratsmitglieder eben.