Ex-Mitarbeiter bekommen hohe Zuschüsse zur Altersversorgung. Dabei wurde auch getrickst. Laut externem juristischen Gutachten steuert die Lobby der 55.000 Zwangsmitglieder deswegen auf eine Pleite zu.

Lüneburg. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Lüneburg-Wolfsburg zahlt seit Jahrzehnten überhöhte Betriebsrenten. Laut einem externen juristischen Gutachten steuert die Lobby der 55.000 Zwangsmitglieder deswegen auf eine Pleite zu. Würde die Kammer tatsächlich zahlungsunfähig, müsste das Land Niedersachsen einspringen - und damit der Steuerzahler.

Wer 25 Jahre lang bei der IHK gearbeitet hat, dem stockt die Kammer seine Rente so weit auf, bis 75 Prozent des letzten Bruttogehalts erreicht sind - egal, ob das letzte Gehalt seit sechs Monaten oder seit sechs Jahren galt und ohne Abschläge bei vorgezogenem Ruhestand.

Ein Beispiel: Hat ein Mitarbeiter mit 30 Jahren bei der IHK angefangen und geht mit 65 Jahren und einem Bruttogehalt von 4000 Euro in den Ruhestand, bekäme er nach dem sogenannten Näherungsverfahren rund 1500 Euro Rente vom Staat. Dieselbe Summe würde die IHK in diesem Fall pro Monat drauflegen, bis 3000 Euro, 75 Prozent des letzten Bruttogehalts, erreicht sind. Tatsächlich liegt die Rentenauszahlung bei einem Ex-Hauptgeschäftsführer laut Gutachten bei 7200 Euro, bei einem ehemaligen stellvertretenden Hauptgeschäftsführer bei 4500 Euro.

Nicht wenige IHK-Ruheständler haben als Rentner mehr netto als zu Arbeitszeiten - ein klarer Fall von Überversorgung. Für Pensionäre aus der Führungsetage gibt es - laut Gutachten ohne Rechtsgrund - zusätzlich ein Weihnachtsgeld in Höhe eines monatlichen Ruhegelds. In anderen Fällen rechne die Kammer nicht einmal die staatliche Rente auf das Ruhegeld an. Noch krasser ist der Fall einer ehemaligen Mitarbeiterin, die zu ihren aktiven Zeiten eigens auf einen Geschäftsführer-Vertrag mit meldepflichtiger Beamtenbesoldung und -versorgung verzichtet hatte, damit die Landesversorgungsstelle ihr nicht das Witwengeld kürzt. Laut Untersuchung nickten die Chefs das fragwürdige Vorgehen ab - und genehmigten ihr im Ruhestand trotzdem die ansonsten nur für Geschäftsführer zugestandenen Zahlungen. Die Kammer, Körperschaft öffentlichen Rechts, verstößt damit gegen das Gebot der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, heißt es in dem Gutachten, das ein Stuttgarter Fachanwalt erstellt hat und das dem Abendblatt vorliegt.

Die IHK selbst hatte den Auftrag erteilt, weil sie 2006 ihre Bücher erstmals nach Handelsrecht führen musste. Bis dahin rechnete sie ähnlich wie Städte und Gemeinden nach Kameralistik. Die erfasst nur Einnahmen und Ausgaben für das jeweils aktuelle Haushaltsjahr. Nun mussten die Buchhalter zum ersten Mal ausrechnen, was die seit 1976 geltende Ruhegeldsatzung die Kammer eigentlich in Zukunft kosten wird: fast 15 Millionen Euro - bei einem Vermögen von knapp 26 Millionen. Doch laut Gutachter kommt es noch schlimmer: Denn den Rückstellungsbedarf bezifferte die Kammer damals nach Steuerrecht mit einem Zinssatz von sechs Prozent. Wie hoch die Summe bei 4,5 Prozent wäre, ist ebenfalls bekannt: laut Gutachten 20,5 Millionen Euro. Bilanziert wurden 2007 trotzdem wieder nur 15 Millionen bei einer Bilanzsumme von knapp 26,4 Millionen Euro. Die Konsequenz einer Bewertung mit 4,5 Prozent laut Gutachten: Es würde "offenkundig, dass die IHK Lüneburg-Wolfsburg aufgrund der hohen Pensionsverpflichtungen eine mangelhafte Eigenkapitalausstattung aufweist". Laut Gutachter kommt die IHK damit einer bilanziellen Überschuldung "zumindest nahe".

Der Steuerexperte: Es herrscht eine "finanzielle Schieflage", und "in Anbetracht des zu erwartenden Anstiegs des Liquiditätsbedarfs zur Deckung von Pensionsverpflichtungen ist deshalb die Zahlungsunfähigkeit der IHK Lüneburg-Wolfsburg bereits jetzt konkret absehbar".

Der Gutachter empfiehlt, "unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen", das Versorgungswerk zu sanieren, und zwar "zeitnah". Am 24. Oktober 2007 unterschrieb der Fachanwalt sein Gutachten. Im März 2008 schloss Wolfram Klein, damals seit anderthalb Jahren Hauptgeschäftsführer, eine neue Dienstvereinbarung mit abgespeckter Ruhegeldsatzung mit dem Personalrat ab. Keinen Monat später wurde er gefeuert. Der von IHK-Präsident Eberhard Manzke genannte Grund: ein "zerrüttetes Vertrauensverhältnis". In der IHK arbeitet seit Herbst 2008 ein Gremium an einer neuen Regelung für die Altersversorgung. Diese soll im Sommer vorliegen.