“Herzschlag“: Spannender Ballettabend in der Leuphana. Francisco Sanchez Martinez über die Gemeinsamkeiten von Tanz und Architektur.

Lüneburg. Es wird geliebt. Gestritten. Beschützt, geschlafen, geeilt, geträumt, gezweifelt und ausgegrenzt. Kurz: Es wird gelebt. In seiner Tanz-Performance "Herzschlag" hat Francisco Sanchez Martinez versucht, urbanes Leben auf einem von Architekt Daniel Libeskind entworfenen Teppich tänzerisch darzustellen. Das ist gelungen.

Obwohl der Gedanke zunächst einmal recht widersinnig klingt: Kann man Architektur wirklich tanzen? "Ja", sagt Sanchez Martinez entschieden, "da gibt es eine Menge Gemeinsamkeiten." Beide, Gebäude und Tanz-Choreografien, seien Konstrukte, bei denen Statik, Dynamik und Mathematik eine zentrale Rolle spielten. Libeskind-Entwürfe eignen sich seiner Meinung nach besonders gut für ein Tanzprojekt: "Sie haben eine ganz besondere Dynamik."

Um das Wesen der Libeskind'schen Architektur zu erfassen, habe er sich monatelang mit dem US-Amerikaner und seinem Werk befasst, sagt der Ballettchef des Theaters Lüneburg. "Ich habe über ihn gelesen, und ich habe viele seiner Bauwerke besucht, immer und immer wieder."

Außerdem habe er regelmäßig mit Libeskind per E-Mail korrespondiert; nicht zuletzt, weil die für den Tanzteppich vorgesehene Zeichnung umgearbeitet werden musste. "Wir mussten reduzieren, die Zeichnung war viel zu dicht. Da gab es überhaupt keine Räume, die wir nutzen konnten." Er rechne Libeskind seine Kooperation hoch an, sagt Sanchez: "Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Künstler seine Entwürfe ändert." Sichtbar enttäuscht ist er aber von der Tatsache, dass der berühmte Architekt sich den "Herzschlag" bislang nicht angesehen hat. "Ich denke, das wäre für ihn eine Inspiration."

Doch zurück auf den Tanzteppich, der von einer Theatermalerin mit der reduzierten Libeskind-Zeichnung bepinselt wurde und genügend Räume für eine sinnvolle Choreografie bot. Aber - wie tanzt man denn nun ein Gebäude?

"Was ein Gebäude ausmacht, sind die Menschen in ihm. Eine Stadt, die ja aus Gebäuden besteht, wird von den Menschen mit Leben erfüllt", sagt Sanchez Martinez. Um den Puls einer Stadt (deshalb der Titel der Choreografie, "Herzschlag") zu erspüren, habe er sich stundenlang in der Wandelhalle des Hamburger Bahnhofs oben ans Geländer gestellt, die Menschen im Erdgeschoss beobachtet und ihre Wege aufgezeichnet. "Witzigerweise entstanden häufig Bilder, die der Libeskind-Zeichnung nicht unähnlich sind."

Eine weitere große Herausforderung für Sanchez Martinez waren die Räumlichkeiten. "Auf einer normalen Bühne hat man eine Schaufenster-Situation: Die Zuschauer sehen das Ganze nur von vorne." Ganz anders im zweigeschossigen Foyer der Universitätsbibliothek, wo die 100% Tanzwerk-Vorstellungen stattfinden. "Die Leute sehen von allen Seiten zu: von links, von rechts, von hinten, vorne und von oben. Eine Choreografie zu entwickeln, die von allen Seiten funktioniert, ist schwierig." Je nach Blickwinkel verändere sich der Eindruck, insgesamt müsse die Aussage aber stimmen.

Damit nicht genug. "Das Ganze muss dann ja auch noch zur Musik passen!" Noch im Nachhinein stöhnt der Ballettchef gequält. Denn mit der Musikauswahl, sagt er, sei er nicht so ganz glücklich gewesen. "Daniel Libeskind und Holm Keller hatten für eine andere Präsentation eine Collage aus Bachs Goldberg-Variationen und Großstadtgeräuschen gemacht, die ich verwenden sollte", erzählt er. Nun sei die mathematische, konstruierte Bach-Musik der Architektur zwar recht nahe, durch seine relativ gleichbleibende Struktur und Dynamik als Begleitmusik für eine Choreografie aber nicht sehr geeignet.

Tatsächlich harmoniert der Bach in der ersten Hälfte der Performance gut mit der Choreografie. In der zweiten Hälfte wäre etwas Knackigeres aber vielleicht passender gewesen - die Spannung sackt etwas ab.

Dennoch geht das Konzept von Francisco Sanchez Martinez auf. "Das hatte für mich etwas von Großstadtstress", findet eine Besucherin, die den "Herzschlag" von der umlaufenden Galerie herab betrachtet hat und damit die Intention des Choreografen genau erfasst hat. Die Räume der Libeskind-Zeichnung seien gut genutzt worden.

Das war auf der unteren Ebene nicht so richtig zu erkennen. Dafür erleben die Zuschauer hier eine intensive, berührende Vorstellung von Claudia Rietschel, Ewelina Kukuschkina, Sofia Pintzou und Amadeus Pawlica. Im wahrsten Sinne des Wortes: Die Tänzerinnen und der Tänzer kommen bis auf wenige Zentimeter an das um den Teppich herum sitzende Publikum heran. Man hört sie atmen, man sieht den Schweiß fließen - und stellt fest: Amadeus Pawlica riecht unglaublich gut, sogar noch am Ende der Vorstellung.

Dabei war Pawlica sogar schon vorher auf der Bühne: Im ersten, vierzigminütigen Teil des Ballettabends wurden vier vom Ensemble selbst entwickelte, teils sehr sehenswerte Choreografien gezeigt. Besonders beeindruckend ist hierbei die Kurzgeschichte von Clément Bugnon und Matthias Kass.

100% Tanzwerk Vorstellungen noch am Freitag, 15., und Dienstag, 19. Juni, jeweils um 21 Uhr im Foyer der Leuphana-Bibliothek. Karten im Internet unter www.theater-lueneburg.de oder an der Theaterkasse, Telefon 04131/421 00.