Lauenburg. Ivan aus St. Petersburg will nicht als Soldat gegen die Ukraine kämpfen. Wie ihm ein Lauenburger Unternehmerpaar den Weg ebnete.

Dass Ivan (Name v. d. Red. geändert) Angst hat, sieht man auf den ersten Blick. „Lieber nicht mein Gesicht fotografieren. Meine Familie lebt noch in Russland“, bittet er in gebrochenem Englisch. Ivan selbst ist in Sicherheit, endlich. Er floh vor seiner wahrscheinlichen Einberufung zum russischen Militär. Der Elektroingenieur aus St. Petersburg hat gerade seinen Arbeitsvertrag unterschrieben. Von nun an ist er Mitarbeiter in der Lauenburger Firma Schilloks Solartechnik.

Auch für Mareike und Daniel Schilloks ist das ein besonderer Tag. Sie haben eine wahre Odyssee hinter sich, um Ivan den Weg nach Deutschland zu ebnen. Dessen Onkel ist ein Freund der Familie. „Ihr sucht doch Fachpersonal. Mein Neffe ist gut ausgebildet“, sagte er. Das Unternehmerpaar war sich einig: Sie wollen dem jungen Mann helfen. Und als ausgebildeter Elektrofachmann würde er perfekt ins Team passen. Was sie da noch nicht ahnten: Einen Kriegsdienstverweigerer aus Russland ins sichere Deutschland zu holen, ist mit vielen Hürden verbunden.

Kriegsdienstverweigerer aus Russland: Studium geschafft, dann kam der Krieg

Ein paar Brocken Deutsch hat Ivan zwar schon aufgeschnappt, die Verständigung klappt aber besser über ein englisch-russisches Sprachgemisch. Irgendwann wollte er auch nach Deutschland reisen, erzählt der 27-Jährige. Urlaub machen, das Geld auf den Kopf hauen, das er nach dem Studium endlich verdiente. So hatten er und seine Mitstudenten es sich ausgemalt. Inzwischen haben sie nur noch über die sozialen Netzwerke Kontakt. Wer konnte, hat Russland verlassen.

Als Putin am 24. Februar vergangenen Jahres die Militäroffensive gegen die Ukraine begann, war der Krieg für Ivan und seine Freunde noch weit weg. Doch in seiner Heimatstadt St. Petersburg formierte sich der Protest. Auch wenn das Staatsfernsehen darüber kaum berichtete, erlebte Ivan hautnah, wie brutal die russischen Machthaber gegen die Demonstranten vorgingen. „Schon das Wort Krieg in den Mund zu nehmen, war in deren Augen ein Verbrechen“, erzählt er.

27.02.2022, Russland, St. Petersburg: Die Polizei nimmt eine Demonstrantin während einer Aktion gegen Russlands Invasion in die Ukraine fest. Trotz Massenverhaftungen gingen die Menschen in Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten den dritten Tag in Folge auf die Straße.
27.02.2022, Russland, St. Petersburg: Die Polizei nimmt eine Demonstrantin während einer Aktion gegen Russlands Invasion in die Ukraine fest. Trotz Massenverhaftungen gingen die Menschen in Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten den dritten Tag in Folge auf die Straße. © dpa | Dmitri Lovetsky

Bald stellten sich er und seine Freunde Fragen: Was, wenn sie gezwungen würden, auf Menschen zu schießen? Was, wenn sie selbst in diesem Krieg umkommen würden? Und was hatten sie überhaupt in der Ukraine zu suchen? Als Putin schließlich die sogenannte Teilmobilmachung verkündete, war für Ivan klar: Es konnte jederzeit geschehen, dass er zum Militär eingezogen würde. Auch Verstecken hätte nichts genützt. Kurzfristig wurde nämlich in Russland ein Gesetz geändert: Der Einberufungsbefehl muss nicht mehr persönlich übergeben werden, eine digitale Zustellung genügt.

Flucht über die Grenze nach Kasachstan

Wie viele junge Russen machte sich Ivan von St. Petersburg auf den 3000 Kilometer langen Weg an die Grenze nach Kasachstan. Weg, nur weg! 90 Tage, so wusste er, hatte er im Nachbarland Zeit, einen Ausweg zu finden. Früher hatte es gereicht, nach den drei Monaten kurz die russische Grenze zu übertreten und wieder nach Kasachstan einzureisen. Dabei hatte Ivan noch Glück: Angesichts der Massenflucht von russischen Kriegsdienstverweigerern in das zentralasiatische Nachbarland waren russische Behörden inzwischen dazu übergegangen, wehrpflichtige Männer an der Grenze abzufangen.

„Wenn man nicht weiß, wie es weitergeht, sind 90 Tage wenig Zeit“, sagt Ivan. „Komm vorerst bloß nicht zurück“, warnten ihn seine Eltern. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, dass Rückkehrer aus Kasachstan bei ihrer Einreise nach Russland sofort zum Militärdienst eingezogen würden. Inzwischen hatten Mareike und Daniel Schilloks aus Lauenburg Kontakt zu Ivan aufgenommen. „Wir brauchen dich hier“, versicherten sie ihm. Ein Hoffnungsschimmer.

Asylantrag oder Fachkräftezuzug?

„Wir hatten ja zunächst keine Ahnung, wir wir es anstellen müssen, den jungen Mann nach Lauenburg zu holen“, erinnert sich Mareike Schilloks. Je mehr sie und ihr Mann sich jedoch mit der Materie beschäftigten, wurde ihnen klar, dass Ivans Chance auf Asyl in Deutschland nicht die beste ist. Das ist auch die aktuelle Einschätzung der Organisation Pro Asyl und dem Verein Connection, einem internationalen Netzwerk von Kriegsdienstverweigerern. Demnach, so heißt es, würden russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in den Asylverfahren abgelehnt. Sie müssten Einsatzbefehle vorlegen, die belegen, dass sie zu völkerrechtswidrigen Handlungen aufgefordert wurden. Nichts davon besaß Ivan.

Ist ja kein Problem, dachte sich das Unternehmerpaar, sie brauchen den jungen Mann ja als ausgebildeten Elektrofachmann in ihrem Unternehmen. Als absehbar war, dass der Fachkräftemangel in Deutschland dramatische Züge annehmen würde, wurden die Bedingungen für den Zuzug von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten deutlich gelockert. „Wir erkundigten uns beim Arbeitsamt und erfuhren, dass die Beantragung des Verfahrens mehrere Monate in Anspruch nehmen würde. Doch soviel Zeit blieb Ivan ja nicht bis zu seiner drohenden Ausweisung nach Russland“, sagt Daniel Schilloks.

Einen Tag vor Ausweisung hob der Flieger nach Deutschland ab

Dabei sei alles ziemlich unkompliziert, man hätte es uns nur sagen müssen, sagt Mareike Schilloks. Was sie herausgefunden hatte: Über das Online Portal „Make it in Germany“ erfahren Unternehmer alles, was sie für den Zuzug ausländischer Fachkräfte brauchen. Ivan verbrachte seine Tage von da an im Internetcafé. Er schickte beglaubigte Übersetzungen seiner Ausbildungsabschlüsse und hielt den Kontakt zu seinen künftigen Arbeitgebern in Deutschland.

Dann musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Zwei Tage hatte Ivan Zeit, seine Aufenthaltsgenehmigung in der Deutschen Botschaft in Astana abzuholen. 1300 Kilometer reiste er dafür durch das Land. Gerade noch rechtzeitig: Am 89. Tag seines Aufenthaltes in Kasachstan stieg Ivan in den Flieger nach Deutschland. Vorübergehend ist er bei der Familie seines Onkels in Schnakenbek untergekommen. Bald, so hofft Ivan, wird er eine eigene Wohnung haben.

Erfahrener Mitarbeiter hilft bei der Eingliederung

Mareike und Daniel Schilloks sind sich sicher, den richtigen Weg gegangen zu sein. Trotzdem sagen sie, dass Ivans Einreise über den geregelten Fachkräftezuzug auch eine Schattenseite hat. „Dieses Programm sieht vor, dass ausländische Fachkräfte wie deutsche mit der gleichen Qualifikation bezahlt werden. In der Regel sprechen diese Menschen aber unsere Sprache und können sich länger auf die Einreise nach Deutschland vorbereiten“, weiß der Unternehmer.

Ivan hingegen wird erst in ein paar Monaten eine vollwertige Arbeitskraft im Unternehmen sein. Dies dürfte andere Unternehmer abschrecken, ähnlich viel Aufwand zu betreiben. Daniel Schillok hat seinem neuen Mitarbeiter jetzt einen erfahrenen Praktiker als Paten an die Seite gegeben. Sprache, so sagt er, lerne man am besten bei der Arbeit.

Ob und wie lange er in Deutschland bleiben will, weiß Ivan heute noch nicht. Seine Aufenthaltsgenehmigung gilt vorerst zwei Jahre. Dass ihn Bürgermeister Thorben Brackmann persönlich in Lauenburg begrüßte, wunderte ihn. Hatte er doch gehört, dass es auch in Deutschland viele Bedenken gebe, russische Kriegsdienstverweigerer aufzunehmen. „Bitte denkt nicht, dass alle Russen Putins Propaganda glauben. Das ist sein Krieg, nicht meiner“, sagt er.